Irsee 2018

(Weil ich in diesem Jahr wieder in Irsee war, diesmal zum Fotografieren, habe ich meinen alten Text von 2018 noch einmal herausgekramt. Diesmal war übrigens alles ganz anders, dazu irgendwann einmal mehr.)

Bewerbungspräludium – Die erste Seite

„Bist du bescheuert?“
Die Stimme der Vernunft klingt ungläubig, ein wenig fassungslos und ziemlich entsetzt.
Ich gucke wortlos aber möglichst selbstsicher zurück, was nur halb gelingt. Wortlos klappt immerhin.
„Hast du nicht genügend andere Baustellen? Hast du nicht erst neulich wieder festgestellt, dass du aufpassen musst, dich nicht zu verzetteln? Denk an letztes Jahr und wie es dir da ging mit all den halbherzig angefangenen Projekten. Wenn dir langweilig ist, entrümple endlich den Dachboden, das wäre wenigstens sinnvoll!“
Sie hat ja Recht. Einerseits. Aber andererseits? Im Sommer ist es auf dem Dachboden eh viel zu heiß.
„Du hast ja von diesem – wie heißt er noch gleich? – bisher noch nicht mal was gelesen. Und willst du dich da ernsthaft zwischen zwölf andere Teilnehmer setzen, die bestimmt alle schon mindestens ein bis zwei Romane geschrieben oder im Kopf haben? Die vermutlich im Schnitt 30 Jahre jünger sind? Ganz tolle Ideen haben? Genau wissen, was sie wollen? Schreiben können?“
Jetzt könnte ich eh sagen was ich will, sie würde nicht mal zuhören. Dass mich das mit der 13. Reihe angesprochen hat zum Beispiel. Oder die Suche nach der Schatzinsel, oder das Foto vom schönsten Gegenstand, den ich kenne.
„Und wie kommst du überhaupt darauf schreiben zu wollen, vom Können mal ganz zu schweigen. Halb lustige Anekdoten, Büromails und langweiliges Tagebuchgeschreibsel zählen nicht.“
Die Stimme wird schriller. Sie kann ganz schön fies sein. Wäre sie fassbarer hätte ich sie vermutlich schon längst erwürgt. Oder gefesselt, die Füße mit Salz eingerieben und eine Ziege bestellt. So habe ich nur die Wahl zwischen Argumentieren und Ignorieren. Ich ignoriere weiter und klicke mich durch die Kursdetails.
„Wenn es denn unbedingt sein muss, guck doch mal bei der VHS, die haben doch auch immer so schöne Kurse, hier in der Nähe und gar nicht teuer.“
Die Stimme klingt jetzt wieder sanfter, überredender. Immerhin schlägt sie mir nicht vor, „Scheitern für Dummies“ zu belegen.
„Du weißt ja nicht einmal, wie lang so eine Seite üblicherweise

Ast 1 – Über die Schwierigkeiten, eine Geschichte zu schreiben

Wenn Bäume denken und sprechen, dann tun sie das im Allgemeinen genauso langsam und bedächtig wie sie alles andere tun. Denn schließlich spielt es normalerweise keine Rolle, ob sie heute noch oder morgen oder gar erst in einem Jahr diesen Gedanken zu Ende bringen – solange in der Zwischenzeit niemand anders darüber nachdenkt sie zu fällen.

Der Baum, der in dieser Geschichte – wenn es denn überhaupt eine wird – eine Hauptrolle spielt ist eine Eiche und steht schon viele, viele Jahre (das ungefähre Alter einer Eiche lässt sich ermitteln, indem man den Umfang in einer Höhe von 1,50 m misst und mit 0,8 multipliziert, sagt das Internet. Mein Augenmaß misst 1,20 m, das ergäbe ein Alter von knapp 100 Jahren) im Park des Klosters.

Vielleicht hatte irgendein Eichhörnchen damals an dieser Stelle ein Winterversteck und eine Eichel übersehen. Oder der Frühling kam sehr früh in jenem Jahr. Der damals für den Klostergarten zuständige Mensch rupfte den jungen Trieb nicht heraus, sondern ließ ihn wachsen, bis irgendwann ein stattlicher junger Baum daraus geworden war. Unter dem dann wieder Eichhörnchen ihre Wintervorräte sammeln und verstecken konnten, aber das ist vermutlich eine andere Geschichte.

Jetzt in diesem Moment sitzen gerade einige Menschen unter dieser Eiche und schreiben an ihren Geschichten. Aus den weit geöffneten Fenstern hört man den Chor proben, teilweise dieselbe Stelle immer und immer wieder. Wer schon einmal in einem Chor gesungen hat, weiß, dass Chorleiter da sehr unerbittlich sein können. Die Fontäne des Brunnens sprudelt und sprudelt, würden nur meine Ideen genauso sprudeln. Stattdessen plage ich mich weiter mit einem Anfang herum bzw. Anfänge habe ich bereits einige, aber keine Idee, wie daraus eine halbwegs brauchbare Geschichte werden könnte. Der Baum wirft eine Minieichel auf mich herunter. Hättest du nicht noch ein wenig wachsen sollen, bevor du dich vom Baum stürzt? Oder waren die anderen Eicheln da oben gemein zu dir, so dass du keinen anderen Ausweg wusstest? Ich bin albern… So wird das auch nichts mit der Geschichte.

Es ist fast windstill an diesem Nachmittag, nur ab und zu weht ein ganz leichtes Lüftchen vorbei. Aber im Schatten ist es dennoch genau richtig warm. Eigentlich würde ich jetzt lieber mit der Kamera irgendwo herumstreifen, vorhin auf dem Weg zur Gedenkstätte sah ich eine Abzweigung zu einer Wiese mit Apfelbäumen. Die Eiche über mir knarzt missbilligend, vermutlich so etwas wie „bin ich dir etwas nicht gut genug? Oder warum faselst du von Apfelbäumen? Die Energiedichte meiner Früchte ist um einiges höher als die von Äpfeln, und das mit dem „keeps the doctor away“ wird auch überbewertet. Und überhaupt: „An Acorn a day keeps two doctors away“ – gab es da nicht einen Sketch von Monty Python, wo die Schlange der ferngehaltenen Ärzte immer länger wurde? Ich schweife immer weiter ab.

„Und überhaupt“ kommt die Eiche wieder auf den vermeintlichen Punkt „bin ich unter anderem ein Friedenssymbol. Hat man etwas ähnlich Bedeutsames schon mal von Apfelbäumen gehört?“ Mir fielen jetzt spontan die Apfelbäume des Herrn Goethe ein, aber so richtig beweisen in puncto Bedeutsamkeit kann ich es ihm auch nicht, also sage ich lieber nichts. Und wieso heißt es „die Eiche“, aber ich habe das Gefühl, mit einem Mann zu diskutieren?

Es ist sehr schön, in dieser Atmosphäre friedlich zusammenzusitzen, nur das Geplapper hinter meinen Augen nervt gerade wieder, ist es doch wenig zielführend. Immer noch keine Geschichte zu erahnen. Vielleicht sollte ich doch mit dem Salat anfangen. Aber dann müsste ich strenggenommen mit dem Whisky aufhören, und das will ich nun wirklich nicht. Scheitern für Fortgeschrittene, immerhin. Hätte ich mal auf die Stimme der Vernunft gehört, oder vielleicht doch nicht? Erstmal aufstehen und ein wenig bewegen. Eine halbe Stunde und einige Fotos später kehre ich etwas erfrischt zurück zu Notebook und Eiche. Letzterer schmollt jetzt, weil ich bei den Apfelbäumen war. Er kann über die Klostermauer sehen. Dann wird er aber doch kommunikativer, oder vielleicht höre ich auch einfach besser zu.
„Wie wäre es denn zum Beispiel mit einem Krimi. Mord im Kloster. Ein irrer Abt schlafwandelt durch die Flure und bringt dabei versehentlich Besucher um. Der Kommissar, ein Meter neunzig, ein Kerl wie eine Eiche, kommt ihm nur auf die Schliche, weil er selber schlafwandelt“
„Toll, ganz toll. Und wieso eigentlich ein Meter neunzig?“
Die Eiche schweigt beleidigt, aber nur kurz. Die Kastanien nebenan kichern ein wenig gehässig. „Dann vielleicht: jemand steigt aus Versehen am Bahnhof in ein Zeitreisetaxi und landet zwar in Irsee aber im falschen Jahrhundert“
„Ganz nett aber zu kompliziert, jedenfalls für die Kürze der Zeit. Und außerdem hast du den irren Abt vergessen“
Jetzt ist er wirklich beleidigt.
„In jedem Fall solltest du aufhören, unsere Dialoge aufzuschreiben, am Ende glauben die anderen sonst wirklich noch, dass du mit Bäumen sprichst oder Stimmen hörst“
„Dann mach einen besseren Vorschlag und ich fang sofort an aufzuhören.“
Die Eiche überlegt eine Weile, man hört seine Gedanken rascheln.

Ast 2 – Personalsuche

Zweiter Tag der Suche nach der Schatzinsel. Dieselbe Eiche, eine ähnliche Anordnung der Liegen.
Diesmal habe ich relativ spontan eine Idee, schreibe los über einen mir unbekannten Teilnehmer eines mir unbekannten Seminars („Führen im digitalen Zeitalter“), der unter der mir bekannten Eiche sitzt und sich mehr oder weniger existenzielle Fragen stellt. Je näher ich ihn kennenlernen möchte, desto bekannter kommt er mir vor. Ich kann ihn zwar „er“ nennen oder ihm sonst einen Namen geben, ich kann ihm eine Biographie verpassen, die mit meiner möglichst wenig zu tun hat, trotzdem ist er doch nach kurzer Zeit oder eigentlich von Anfang an ich.
„Moment mal“ eben noch klang seine Stimme ein wenig selbstmitleidig, als er sich in der Beschreibung seines beruflichen Werdegangs und der Erklärung warum er kein Businesskasper sein will verlor. Jetzt plötzlich klingt sie energisch.
„Natürlich bin ich eine eigenständige Persönlichkeit, vielleicht guckst du einfach mal ein wenig genauer hin?“
Wie um mir das zu erleichtern steht er von der Bank auf und sieht mich auffordernd oder vielleicht eher herausfordernd an. Sein Allerweltsgesicht bekommt auf einmal markantere Züge, seine Schultern straffen sich.
„Naja, aber die Ähnlichkeiten muss ich dir ja jetzt wohl nicht einzeln aufzählen“ Was er an Selbstsicherheit gewinnt scheint mir im gleichen Maße abhandenzukommen.
„Letztendlich sind es immer die Unterschiede, die zählen“ Er hat sich wieder gesetzt und lädt mich mit einer Handbewegung ein, mich zu ihm zu setzen.
„Also ich weiß ja nicht, aus welchem Ratgeber du diesen Spruch hast, aber nein, das sehe ich anders, die Gemeinsamkeiten zählen, im Roman wie im richtigen Leben.“
„Gemeinsamkeiten.“ er schnauft verächtlich „Davon bleibt nur nicht viel übrig, wenn es darauf ankommt. Sieh dir meine Ehe an. Eben wegen der Gemeinsamkeiten wurde sie irgendwann so langweilig, dass keiner mehr einen Grund hatte, mit dem anderen überhaupt noch zu reden, also über mehr als das Wetter, die Kinder und was man am Tag so gemacht hatte.“
„Für deine Langeweile kann ich aber nichts.“ Ich merke selber, dass das ein wenig lahm klingt.
„Natürlich du, wer denn sonst? Hättest dir halt ein wenig mehr Mühe geben sollen, dann säße ich jetzt vergnügt mit den übrigen Führungskräften im Biergarten, würde von meiner glücklichen Familie, meinem Boot und meinem Haus erzählen, erfolgreich Netzwerken und übermorgen zu Hause meiner Frau – wie heißt sie eigentlich, meine Ex? Ach ja richtig, du hast ja bisher noch nicht einmal für mich einen Namen – von diesem Seminar und seinen positiven Impulsen für unsere gemeinsame Zukunft vorschwärmen, anstatt mich hier im Garten erst alleine in Selbstzweifeln zu zerbröseln um danach dir zu erklären, was du falsch gemacht hast, als du mich geschaffen hast.“
„Deine Exfrau heißt Dagmar, du hast sie Daggi genannt, eure Kinder heißen Kevin und Chantal, und du….heißt…. Detlef. Sie hat dich immer nur Detlef genannt. Daggi und Detlef, ein echtes Traumpaar“. Wenn er gemein ist, darf ich es auch sein. Haben wir doch gleich wieder eine Gemeinsamkeit. Ihn scheint das aber nicht zu stören, oder er lässt es sich einfach nicht anmerken.
„Und wie haben wir uns kennengelernt, Daggi und ich?“ fragt er stattdessen neugierig. Als ob er nicht selber dabei gewesen wäre. „Im Skiurlaub mit gemeinsamen Freunden, und sie konnte dich zuerst überhaupt nicht ausstehen“ was mich, je besser ich ihn kennenlerne auch nicht wirklich verwundert.
„Aber dann hat sie ihre Meinung anscheinend geändert“
„Ja, aber das spielt alles für diese Geschichte hier überhaupt keine Rolle“
„Woher willst du das denn jetzt schon wissen?“
„Ich weiß es halt.“ beharre ich stur.
„Nein, das weißt du nicht, und es wäre ein Leichtes, dir das zu beweisen, aber ich lasse dich ruhig selber darauf kommen“
„Wir können ja wetten“ schlage ich vor.
„Um was? Wer gewinnt bestimmt das nächste Kapitel?“ fragt er eifrig.
Schon bereute ich es, den Vorschlag überhaupt gemacht zu haben.
„Ich finde, du besinnst dich erst mal auf das eigentliche Thema dieses Kapitels und denkst weiter darüber nach, wie du dich entscheidest“ versuche ich abzulenken.
„Na das dürfte nach diesem Gespräch doch keine Frage mehr sein. Meine Führungsqualitäten habe ich hiermit wohl bewiesen, und es sagt viel aus, dass mein Chef das schon längst erkannt hat, du aber immer noch nicht. So allmählich bekomme ich sowieso das Gefühl, dass du insgeheim ein bisschen neidisch auf mich bist. Immerhin bekomme ich gerade die Möglichkeit, doch noch Karriere zu machen und habe eine Wahl. Du dagegen… Dümpelst seit Jahren dahin, gehst nur noch widerwillig ins Büro, hast längst innerlich gekündigt und machst dich über mich lustig, weil ich vielleicht doch noch etwas erreichen will im Leben?“
Ich schlucke mindestens dreimal bevor ich antworte. „Du meinst, du bist der, der ich nie sein konnte? Ganz gewiss nicht!“
„Da wäre ich mir an deiner Stelle aber nicht so sicher. Denk ruhig mal etwas länger darüber nach.“
Er sieht mich noch einmal durchdringend an, bevor er aufsteht und mit schnellen Schritten doch noch in den Biergarten geht.

In der Eiche über mir raschelt es kurz wie ferner Applaus.

Ast 3 – Nächtliche Begegnung

Es war wieder ein langer, heißer Tag gewesen, anstrengend vor allem zum Abend hin. Irgendwann ging aber auch der langweiligste Empfang zu Ende. Die Tische wurden abgeräumt, und spätestens als nicht nur die Gläser und Flaschen verschwunden waren, sondern sogar die Windlichter eingesammelt wurden, verstand es auch der Letzte und die Gäste tröpfelten auseinander, um zu Hause für sich weiter zu schwitzen.
Todmüde ging sie auf ihr Zimmer, geschafft von der Hitze, der Sonne, vor allem aber von dem Geplapper der letzten Stunden. Die Mundwinkel kamen ihr vor wie festgeklebt, als sie versuchte, das geschäftsmäßige Lächeln aus ihrem Gesicht zu wischen, was erst nach und nach gelang, so wie ein Pulli, an dem man zu viel herum gezupft hat erst allmählich wieder seine ursprüngliche Form wiederbekommt.
Mit dem Zähneputzen entfernte sie den schalen Geschmack aus ihrem Mund, eine Mischung aus abgestandenem Sekt und noch abgestandeneren Worten, die sie sich hatte sagen hören, weil man das eben so macht bei solchen Gelegenheiten, wohl wissend, dass sowieso keiner richtig zuhört geschweige denn an dem Gespräch oder ihr als Mensch wirklich interessiert ist.
Manchmal ertappte sie sich bei dem Wunsch, in einem solchen Moment mittendrin etwas völlig unpassend Absurdes zu sagen. Ob das überhaupt jemandem auffallen würde? Und wenn ja, würde man sie dann ansehen wie ein exotisches Tier?
Hinter den Augenlidern brannte die Müdigkeit, dennoch konnte sie nicht einschlafen. Nicht mal ihr derzeitiger Zufluchtstraum half, das Gedankenkarussell zu stoppen und endlich zur Ruhe zu kommen. Und so stand sie schließlich wieder auf, zog sich das Nötigste an und ging in den Park. Wenn schon Grübeln, dann wenigstens in schönerer Umgebung als in diesem Zimmer.
Als sie sich auf eine Bank unter einen Baum setzte, ging es ihr gleich ein Stückchen besser und sie atmete tief durch.
„Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht irgendwo mein Bein gesehen?“ Sie hatte das Zebra nicht kommen sehen, das jetzt plötzlich ein wenig schüchtern vor ihr stand. Und in der Tat fehlte ihm das linke Vorderbein, was man aber erst bei genauerem Hinsehen sah, denn es war sehr kunstvoll durch ein Holzbein ersetzt worden.
„Äh. Nein, tut mir leid. Wo haben Sie es denn verloren?“
„Das weiß ich leider nicht mehr so genau“ antwortete das Zebra und trippelte ein wenig unruhig auf der Stelle, als ob es bereit zur Flucht war, vor wem oder was auch immer. „Es ist schon so lange her, wissen Sie, und eigentlich habe ich mich ja auch gut daran gewöhnt. Nur dass die Leute einen immer so komisch anschauen, daran gewöhnt man sich nie. Aber ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, das Bein doch eines Tages wiederzufinden.“
„Das kann ich beides gut verstehen, also dass man sich nie an die Blicke gewöhnt und dass man die Hoffnung nicht aufgibt, irgendwann doch hmmm… vollständig zu sein, wenn Sie mir diese Bemerkung verzeihen.“  „Also… Natürlich ist man auch mit drei Beinen vollständig. “ beeilte sie sich hinzuzufügen, um das Zebra nicht noch trauriger zu machen, als es womöglich sowieso schon war.
„Das ist aber nett von Ihnen“ sagte das Zebra freundlich und schien ‚nett‘ auch wirklich so zu meinen und nicht stattdessen den kleinen Bruder von ‚Scheiße‘ „Vielleicht könnten Sie ja einfach ab und zu die Augen offenhalten, und falls Sie mein Bein zufällig finden… Könnten Sie mir dann einfach kurz Bescheid geben? Hier ist meine Emailadresse“. Es reichte ihr mit dem Holzbein eine Visitenkarte herüber.
„Das mache ich gerne“ antwortete sie und meinte das genauso ehrlich wie das ‚nett‘ des Zebras. Auf der Rückseite der Karte war das Bild einer Giraffe. „Meine Lieblingstiere“ sagte das Zebra verlegen, als es den Blick bemerkte und fügte sofort hinzu: „Jetzt muss ich aber weiter, hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen“
Und bevor sie „mich auch“ sagen konnte geschweige denn auch nur eine der Fragen stellen, die ihr während des kurzen Gesprächs in den Sinn gekommen waren, war das Zebra bereits mit schnellen, eleganten Schritten aus ihrer Hör- und Sichtweite verschwunden. Nur ein sehr genauer Beobachter hätte das leichte Hinken bemerkt.
Über ihr wehte ein leichter Luftzug durch die Zweige, und die Eiche knirschte ein wenig im Schlaf, als ob sie gerade intensiv geträumt hatte.

Finale – Auf dem Boden der Tatsachen

Wochen später.

Die Kunstsommerteilnehmer sind abgereist und haben alle mitgebrachten oder dort entstandenen Menschen, Tiere, Emotionen, Bilder und Geschichten wieder mitgenommen. Und sollte irgendjemand doch etwas vergessen haben, etwa eine Visitenkarte im Gras oder ein Ladekabel im Schrank, so wurde es mit Sicherheit genauso schnell entfernt wie die benutzten Teller bei den Mahlzeiten, sobald man das Besteck aus der Hand gelegt hatte.
Der Workshop „Führen im digitalen Zeitalter“ findet erst im November statt – natürlich ohne Detlef – obwohl: wirklich sicher sein kann man sich da nicht.
Das Zebra ist wieder glücklich zu Hause, mitsamt seiner Familie und allen anderen Gefährten.
Viele Geschichten wurden oder werden noch weitergeschrieben.
Unter der Eiche ist Ruhe eingekehrt.

Einige hundert Kilometer entfernt hört man an einem warmen Spätsommerabend das unangenehme Sirren eines Insekts. Vermutlich stammt das Geräusch von einer stinknormalen Rheinschnake, ganz eventuell hatte aber auch eine Klostermücke die Chance genutzt, sich an jenem Abschiedsmorgen mit ins Auto zu mogeln, um aus dem Ostallgäu ins schwüle Rheinmaingebiet zu fliehen. Ob das Blut kunstbeflissener Seminarteilnehmer anders schmeckt, als das der in der Einflugschneise eines Großflughafens lebenden Alltagsmenschen?
In jedem Fall: es sirrt. Hoch und nervend. Und trotz des kurzen Regens vorhin ist es auch ohne dieses Geräusch immer noch viel zu warm zum Denken oder Schreiben. Seufzend lasse ich Finger und Blick sinken.
„Ok, meine Konzentration ist eh dahin, also: was willst du?“
„Och, nichts Bestimmtes, nur mal kurz auf den Bildschirm schauen. Kannst du die Schrift vielleicht ein wenig größer zoomen?“
„Ich könnte es dir auch vorlesen, wenn es zum Selberlesen zu unbequem ist. Vielleicht einen Keks und ein Tässchen Blut dazu?“
„Wenn du mich so fragst – da sage ich nicht nein.“ summt sie erfreut und lässt sich auf dem Rand des Monitors nieder.
Ironie scheint sie schon mal nicht zu verstehen. Aber da ich den bereits vorhandenen Text sowieso noch einmal korrekturlesen möchte, kann ich das auch genauso gut laut tun. Als ich fertig bin, bleibt es auf den Logenplätzen des Monitors erst mal still. Ich werte das als positives Zeichen, aber weit gefehlt.
„Eine richtige Geschichte ist das aber nicht“ sirrt sie schließlich und fliegt wieder eine kleine Runde, vermutlich, um sich die Flügel zu verfliegen (vertreten ginge ja schlecht). „Da fehlt es an allem, was eine wirkliche Geschichte ausmacht – von ‚gut‘ ganz zu schweigen“.
Ich verkneife mir die Frage, warum sie glaubt, sich in dem Bereich auszukennen, denn schließlich bin ich zu dieser Erkenntnis auch schon selber gekommen, frage aber trotzdem nach, wie sie das denn meint.
„Naja, es gibt keinen Plot, keine handelnden Personen (nein, dieser Detlef zählt nicht), kein Teil hat wirklich mit den anderen zu tun, der Text lässt sich keinem Genre richtig zuordnen, es ist viel zu kurz, sogar für einen Kurzroman, und vor allem: es kommt kein Blut darin vor!“ Bei jedem Punkt der Aufzählung wippt sie einmal kurz mit den Flügeln.
„Letzteres ließe sich ja ändern, indem ich dich jetzt umbringe.“ Schon suche ich nach der Fliegenpatsche, die hier irgendwo herumliegen muss.
„Immer diese Totschlagargumente. Vergiss es. Dafür bin ich zu schnell – oder du zu langsam, und außerdem hast du die falsche Brille auf. Die Fliegenpatsche liegt übrigens in der zweiten Schublade von oben“
Sie nimmt mich nicht ernst.
„Das mag ja alles sein, aber trotzdem soll dieses Machwerk jetzt endlich fertig werden, damit ich es aus dem Kopf bekomme und mich wieder anderen Dingen zuwenden kann“
„Wenn es weiter nichts ist, dann mach doch einfach einen Punkt. Hier zum Beispiel.“
Sie setzt sich mitten auf den Monitor – ohne zu bemerken, dass ich die Patsche inzwischen aus der Schublade gefummelt und in Position gebracht habe. Immerhin: in einem Punkt hat sie sich geirrt: ich bin schneller als sie.

 

Wolf

1
15 Uhr am Parkplatz hatten sie vereinbart. Es standen nur zwei Autos dort, als sie ankam, in beiden saß niemand, sie war somit die erste, blieb vorerst im Wagen sitzen und versuchte, ihre Nervosität unter Kontrolle zu bekommen.

Neulich in der Buchhandlung hatte sie sich – ausnahmsweise schnellentschlossen – das gleiche Buch gegriffen, das die Verkäuferin ihm kurz zuvor in die Hand gedrückt hatte und war ihm damit hinterhergegangen, um es an der Kasse ganz unauffällig neben seines zu legen. Da erst sah sie, was sie im Begriff war zu kaufen, einen Bildband über Wölfe und ihre Rückkehr nach Deutschland. Er hatte erstaunt aufgeschaut, als er die Buchzwillinge sah „Nanu, noch jemand, der sich für Wölfe interessiert, so ein Zufall“. Sie waren ins Gespräch gekommen und auf seinen Vorschlag hin ins Café im Erdgeschoss gegangen, sie trank Tee, er Kakao mit Sahne.

Obwohl er auf den ersten Blick nicht sonderlich attraktiv wirkte, Gesicht und Gestalt waren eher durchschnittlich, ging von ihm eine eigenartige Faszination aus, der sie sich nicht entziehen konnte oder wollte. Sie sprachen über Wölfe, und sie war froh, dass ihr zumindest ein paar Allgemeinplätze dazu einfielen, einschließlich der Weisheit, dass ja der Mensch sowieso das schlimmste Raubtier überhaupt sei. Und hatte dann – leidlich geschickt, fand sie – das Thema auf neutraleren Boden gelenkt: Den Wald im Allgemeinen und seine Bedeutung für ihre Seele im Besonderen.

Da war es nur naheliegend, dass er einen gemeinsamen Waldspaziergang vorschlug, er wisse da eine sehr urwüchsige Gegend, die ihr mit Sicherheit gefallen würde. Den Parkplatz, den er als Treffpunkt empfahl, kannte sie vom Vorbeifahren, den Wald dahinter bisher nicht. Und den Menschen hinter der eigentümlichen aber bislang nur oberflächlichen Faszination auch nicht. So stimmte sie Ort und Zeit zu, froh, dass er sie nicht zu Hause abholen wollte, denn für einen Adressaustausch fand sie es dann doch zu früh.

Mittlerweile war es 15:02 geworden, und sie stieg aus dem Auto, zog langsam die dicke Jacke an und wickelte sich just den Schal um den Hals, als er plötzlich und wie herbeigebeamt hinter ihr stand. Sie hatte ihn weder kommen sehen noch gehört, und dass er ohne Fahrzeug da zu sein schien, fiel ihr auch erst gar nicht auf.

„Schön, dass es geklappt hat“ seine Stimme klang genauso, wie sie sie in ihrer Erinnerung seit dem ersten Treffen oft gehört hatte. „Ja ich bin auch froh, dachte erst schon, ich komme zu spät, es war so viel los, und dann hat mich noch eine Freundin aufgehalten“ Sie plapperte drauflos, in der Hoffnung, ihre Unsicherheit damit zu überspielen.

„Lass uns doch einfach ein Stückchen gehen, solange es noch hell ist“ schlug er vor, ihre Befangenheit elegant ignorierend.

Sie spazierten los und stellten beide übereinstimmend fest, dass sie das gleiche Wohlfühlgehtempo hatten, nicht im Stechschritt, aber auch nicht zu langsam schleichend.

Der Wald begann direkt hinter dem Parkplatz, und nach nur wenigen hundert Metern bog er vom Hauptweg in eine kleinere Schneise ab. „Dort drüben ist ein zauberhafter Teich. Zu dieser Jahreszeit nicht so interessant, aber wenn du mal im Frühling oder Herbst hierherkommst wirst du begeistert sein und sehen was ich meine“.

Dass er überhaupt die Möglichkeit eines weiteren, wenn auch weit in der Zukunft liegenden Treffens in Betracht zog, freute sie, obwohl: Er hatte ja nicht davon gesprochen, dass sie gemeinsam…

Sie spazierten weiter, redeten über alles Mögliche, und allmählich entspannte sie sich, obwohl sie gleichzeitig ihre Unterschiedlichkeiten immer deutlicher wahrnahm. Er war weitgereist, meist allein, sie war kaum über die angrenzenden Bundesländer hinausgekommen, wenn man von der einen Reise mit den Freundinnen nach Mallorca einmal absah. Er besuchte gerne Opernvorstellungen, sie konnte mit dem stundenlangen Geschrei wenig anfangen, bevorzugte stattdessen Musicals. Er las viel, „richtige“, ernsthafte Literatur, bei der ihr Titel und Autoren, die er nannte, vage bekannt vorkamen, aber gelesen hatte sie davon bisher nichts. Sie dagegen liebte Krimis.

„Kennst du vielleicht Glennkill“ fragte sie „das ist ein Schafskrimi, schon einige Jahre alt, aber ich lese ihn immer wieder gerne.“ Dieses Buch kannte er zufällig auch, und so entspann sich eine lebhafte Diskussion über die Geschichte, die er ein wenig albern fand. Sie hingegen verteidigte Autorin und Story vehement, wobei sich die mittags noch mühsam geglätteten weißblonden Löckchen nach und nach befreiten und ihr ins Gesicht sprangen. „Lass sie doch“ schmunzelte er, als sie mal wieder versuchte, ein paar vorwitzige Strähnen hinter die Ohren zu klemmen. „ich mag deine Locken, sie passen viel besser zu dir als glatte Haare“. „Findest du wirklich?“ Eine zarte Röte zog sich langsam über ihre Wangen, und das Funkeln in ihren Augen ließ sich vermutlich nicht mehr lange hinter der Maske aus Gleichmütigkeit verbergen.

Zum ersten Mal traute sie sich, ihm ausführlicher ins Gesicht zu schauen. Waren seine Augen nicht braun gewesen anstatt bernsteinfarben? Hatte sein Bart neulich nicht gepflegter gewirkt? Jetzt sah er ein bisschen rübezahlmäßig aus, die Augenbrauen buschiger, als sie sie in Erinnerung hatte. Doch das konnte alles genauso gut am abnehmenden Tageslicht liegen. Oder an den dunklen Bäumen um sie herum, die immer dichter zusammenzurücken schienen. Alleine hätte sie sich jetzt bestimmt gefürchtet, aber zum Glück war er ja bei ihr und kannte den Weg.

„Da vorne kommt gleich der Teich“ sagte er „vorher können wir kurz hier abbiegen, dann zeige ich dir noch einen anderen Lieblingsplatz. Wird jetzt aber etwas unwegsam“.

Schon lagen die ersten Baumstämme vor ihnen im Weg, aber sie war walderprobt und stapfte tapfer erst neben, dann hinter ihm her. „Warte, ich helfe dir.“ Er reichte ihr die Hand, um ihr den Weg über einen besonders großen Baumstumpf zu erleichtern. Dabei sah sie, dass sein Handrücken komplett behaart war.

2
Natürlich war seine Hand nicht behaart. Er hatte nur irgendwann in der letzten halbe Stunde Handschuhe angezogen. Als sie genauer hinschaute, erkannte sie es, und ihr Herz, das gerade einen schnellen erschrockenen Hopser gemacht hatte, beruhigte sich wieder ein wenig. Sie ergriff die Hand, er hatte ihr kurzes Zögern gar nicht bemerkt, spürte die raue Wolle und seinen kräftigen Griff. Und ließ sich – halb zog er sie, halb sank sie hin – über den Baumstamm helfen. Dahinter wurde der Weg wieder bequemer, und sie kamen zu einer kleinen Lichtung. „Ist das nicht magisch?“ freute er sich und sie konnte nur stumm und ein wenig ratlos nicken. Die Bäume schienen sich ehrfürchtig im Kreis aufgestellt zu haben, und das dunkelgrüne Moos leuchtete saftig. „Fehlt nur noch Bambi oder wenigstens ein Häschen, das sich im Unterholz in Sicherheit bringt“ dachte sie flüchtig und ermahnte sich im gleichen Moment selbst innerlich „ein wenig mehr Romantik, ein wenig weniger Zynismus, Kleinhirn oder Großhirn, ist mir egal, wer von euch dafür zuständig ist.“

In jedem Fall: Der Ort war schön. „Sogar im Winter gehe ich immer mal wieder kurz hierher. Dreimal tief durchatmen, und ich habe wieder Kraft für die nächste Woche“.
„Ja wunderschön“. Sie merkte selbst, wie lahm das klang, aber sie fror mittlerweile, vor allem die Füße schienen Eisklumpen zu sein. „So allmählich…“ hub sie an.
„Ja, lass uns zurückgehen, für den Teich ist es inzwischen sowieso zu spät, den heben wir uns für einen anderen Tag auf.“
Unterdessen wusste sie schon gar nicht mehr, ob sie sich über ein angekündigtes weiteres Treffen, diesmal war es ja eindeutig, ernstlich freute, aber das lag bestimmt nur an ihren kalten Füßen.

„Komm wir nehmen eine Abkürzung, dann müssen wir nicht wieder über diese Baumstämme kraxeln“ schlug er vor und zog sie, die Lichtung überquerend auf einen kleinen Pfad, der in der Tat gemütlicher aussah als der, auf dem sie gekommen waren.

Eine Weile stapften sie einträchtig nebeneinander, und mit der wiederansteigenden Fußtemperatur kehrte auch ihre gute Laune zurück. Nun sprachen sie über Filme, und zu ihrem Erstaunen liebte er Bollywoodfilme. Die kannte sie nur oberflächlich, und nichts von dieser Oberfläche hatte sie bisher gereizt, sich einen der Schinken komplett anzusehen. Jetzt aber fand sie seine Faszination faszinierend und nahm sich vor, bald mal einen der Filme, die er nannte anzuschauen. „Ich habe sie alle auf DVD“ erzählte er stolz „kann ich dir gerne mal leihen – oder wir gucken den einen oder anderen zusammen, dann verstehst du vielleicht, was ich meine.“
„Gerne“ entgegnete sie, „aber dann schauen wir auch mal einen meiner Vampir- oder Werwolffilme“ Er verzog ein wenig gequält das Gesicht, sein gespielt gedehntes „naa gut“ klang jedoch nicht so, als ob das ernsthaft eine große Strafe sein würde.

Reden wir hier wirklich gerade über ein weiteres Treffen, fragte sie sich, erstaunt, dass er sie wohl doch nicht für so langweilig hielt, wie sie am Anfang des Nachmittags befürchtet hatte.

Jetzt schien er ein wenig irritiert zu sein, er blieb abrupt stehen, so dass sie fast in ihn hineinlief. „Eigentlich hätten wir längst schon wieder auf dem Hauptweg sein müssen“. Seine Stimme klang nachdenklich, aber nicht sonderlich besorgt. „Ich hatte den Weg ganz anders in Erinnerung“. „Kein Wunder, beim letzten Mal war ich ja auch nicht bei dir.“ Ihr Scherz kam irgendwie nicht bei ihm an, oder er hatte schlicht nicht gehört, was sie gesagt hatte, weil er gerade sein Smartphone aus der Tasche geholt hatte und damit hektisch hin- und herging. „Kein Empfang. Hast du vielleicht Internet?“ Immer noch eher amüsiert als beunruhigt suchte sie nach ihrem Handy. „Mist, das liegt glaube ich im Auto.“ „Und jetzt?“ Eben noch war er die Selbstsicherheit in Person gewesen, nun zerbröselte diese Hülle vor ihren Augen, wirkte er auf einmal verunsichert, beinahe ängstlich, wie er da so herumging und auf die Hilfe eines Satelliten hoffte. „Wie in einem schlechten Film“ dachte sie kurz „da hat man auch immer im entscheidenden Moment keinen Empfang“. Wie aufs Stichwort hörten sie aus der Ferne ein Heulen, und fast hätte sie losgekichert, weil die ganze Situation so absurd war.

„Ok, also entweder wir gehen weiter und hoffen, bald auf einen größeren Weg zu treffen, den du wiedererkennst. Oder wir gehen zurück zur Lichtung und von dort den ganzen Weg zurück, wie wir gekommen sind. Brotkrumen habe ich allerdings keine gestreut auf dem Hinweg. Aber hier warten, bis uns die wilden Tiere jetzt oder Spaziergänger im nächsten Frühling finden ist keine Option“ sagte sie energisch und war froh, dass ihre gespielte Forschheit die beginnende Panik aus seinen Augen vertrieb. „Das Heulen eben waren übrigens keine Wölfe“ erklärte er „die hören sich ganz anders an.“ „Schon klar, aber einem verwilderten Hund oder einer Rotte Wildschweine möchte ich auch nicht unbedingt begegnen. Aber lass uns doch mal kurz ganz still sein, müsste man nicht eigentlich die Straße hören? So weit sind wir ja nicht gegangen.“ Sie schwiegen beide und lauschten angestrengt in alle Richtungen. Das Rascheln im Unterholz und das heftiger werdende Rauschen des Unbehagens in ihrem Kopf erleichterten das nicht unbedingt.

3
Eine Stunde später auf der Rückfahrt ließ sie den Nachmittag Revue passieren. Jetzt im warmen Auto konnte sie schon wieder schmunzeln, dort im Wald, als ihr bewusst wurde, dass man sich tatsächlich wenige hundert Meter von einer Bundesstraße entfernt verlaufen konnte, war ihr für einen Moment alles andere als zum Lächeln gewesen. Sie waren weitergegangen, diesmal sie voran, er hinter ihr, sie hörte ihn schnaufen und schniefen, während sie selbst ihr Unbehagen dezent ins Taschentuch schnäuzte. Dann standen sie auf einmal auf einem breiteren Weg, und sie identifizierte einen der Bäume. Auf dem Hinweg hatte sie über seine markante Krümmung gestaunt. Auch er erkannte den Weg jetzt wieder, und so liefen sie – erneut nebeneinander – erleichtert Richtung Parkplatz. Bis zum Auto hatte er Selbstsicherheit und Fröhlichkeit wiedergefunden und erzählte ihr sogar von einer Geschichte, die er im Internet gelesen hatte. Da hatte sich ein junges Paar bei einer Wanderung verirrt und dann tatsächlich die Nacht im Wald verbracht, wo es am Morgen vom Lärm einer Straße geweckt wurde, die noch kürzer entfernt gewesen war als ihre Straße.

Zu Hause angekommen ließ sie sich sofort ein heißes Bad ein, kochte einen Tee und stieg damit und mit dem angefangenen Krimi in die Badewanne. Das Buch blieb geschlossen, im gerade richtig warmen Wasser plätschernd dachte sie über den Nachmittag im Allgemeinen und ihn im Besonderen nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen.

4
Der Staubsauger verstummte. Erleichtert und bereitwillig ließ er das Kabel bis auf den unvermeidlichen letzten halben Meter in sich zurückschnurzen und sich dann an seinen angestammten Platz hinter dem Vorhang im Flur zurückstellen. So viel Aktion war er gar nicht gewohnt, die ganze Wohnung saugen, und das in einem Rutsch! Jetzt war es geschafft, und er konnte sich wieder ausruhen. Seine Besitzerin dagegen lief immer noch hektisch hin und her, räumte auf, putzte das Bad und die Küche, und versuchte parallel eine Lasagne in den Ofen zu bekommen. Mit ihren Kochkünsten war es nicht besonders weit her, aber Pizza bestellen wäre ihr dann doch zu peinlich gewesen, und Lasagne bekam ja sogar sie hin, wie sie häufiger schon bewiesen hatte. Nun lief ihr die Zeit davon, um 19:00 würde er mit den DVDs vor ihrer (geputzten) Tür stehen, bis dahin wollte sie nicht mehr ganz so verschwitzt und abgekämpft aussehen, wie vermutlich jetzt. Eine halbe Stunde und eine Dusche später brachte sie schnell ein wenig Farbe auf die Lippen – die Wangen waren rosig genug, die Löckchen ließ sie diesmal ungeglättet – und versuchte wieder einmal vergeblich, ihre Nervosität in den Griff zu bekommen.

Nach ihrem letzten ein wenig verunglückten Treffen vor einigen Wochen war sie fast überzeugt gewesen, nie wieder etwas von ihm zu hören. Sie war sich nicht einmal sicher, ob Erleichterung oder Enttäuschung überwog, was auch einer der Gründe war, warum sie sich nicht bei ihm gemeldet hatte. Zu vielschichtig waren die Erinnerungen an den Ausflug in den Wald. Als er sich dann ein paar Tage später meldete, freute sie sich doch. Mit jeder neuen Nachricht war er vor ihrem inneren Auge wieder ein Stückchen weiter zum selbstbewussten Helden aus der Buchhandlung oder am Anfang ihres Spaziergangs geworden, die halbe Stunde des geglaubten Verirrens dagegen verblasste mehr und mehr. Er hatte in seinen Textnachrichten erst indirekt dann deutlicher nach einem weiteren Treffen gefragt, und der Filmabend war ja naheliegend, auch wenn sie immer noch nicht so gespannt auf Bollywoodfilme war, wie sie es im Wald vorgegeben hatte. Der Termin (heute!) war schnell gefunden. Zuerst hatte er sie zu sich eingeladen, um dann aber am Tag vorher zu fragen, ob man sich nicht stattdessen bei ihr treffen könne. Sein DVD-Spieler sei kaputt, das hätte er nicht bedacht, und Filme am Notebook gucken sei doch nicht so gemütlich. So war es also zur kurzfristigen und ungeplanten Hektik gekommen. Jetzt sah sie sich zufrieden um, es war zum Glück schon dunkel, und selbst wenn sie alle Lampen anschaltete, blieben die Ecken und Details in gnädiges Schummerlicht getaucht.

Es klingelte, und sie hatte kaum den Summer betätigt, da stand er schon vor ihr, erstaunlich wenig außer Atem dafür, dass er die drei Etagen im Sauseschritt bewältigt haben musste. In der einen Hand hielt er einen altmodischen Einkaufskorb, aus dem eine Flasche, vermutlich Wein, herauslugte, in der anderen einige zerzauste Astern, im Gesicht ein strahlendes Lächeln.
„Von drauss vom Walde komm ich her“, deklamierte er fröhlich, seine Jacke an der Garderobe aufhängend, während sie Mütze und Schal – beides in einem leuchtenden Rot, das sie ihm nicht zugetraut hätte – verstaute.
„Schön, dass du da bist, hast du es gleich gefunden? Manche Navis zeigen die Straße nicht richtig an, es haben sich schon einige verirrt“. Sie plapperte wieder genauso verlegen drauflos wie neulich am Waldparkplatz.
„Kein Problem, ich bin wie du weißt als guter Fährtensucher und vor allem -finder bekannt“ scherzte er und folgte ihr in die Küche, wo sie ein Gefäß für die Blumen suchte, bevor diese komplett ihr Leben aushauchten. Ihr Lachen kam ihr selbst etwas gequält vor.

„Schön sehen sie aus, so natürlich, vielen Dank!“ Sie hatte die Astern in einem rustikalen Steinguttopf arrangiert und brachte ihn ins Wohnzimmer, um auf dem kleinen Esstisch Platz dafür zu schaffen. „Gemütlich hast du es hier, wie in einer kuscheligen Höhle“ Wieder war er ihr auf dem Fuße gefolgt und stellte sich, mehr sie als die Einrichtung anschauend neben sie. Sein Blick und seine Nähe waren ihr heute unangenehm, ohne dass sie verstand, warum. Jetzt stand er mit schiefgelegtem Kopf am Bücherregal. Genauso war er ihr bei ihrer ersten Begegnung in der Buchhandlung aufgefallen. Damals hatte sie ihn faszinierend gefunden, seine Körperhaltung, die eleganten Bewegungen, mit der er dann und wann ein Buch herausnahm, darin blätterte, es behutsam wieder an den ursprünglichen Platz zurückstellte.
„Mach es dir bequem, ich muss mich glaube ich erstmal um das Essen kümmern“ Schnell flüchtete sie in die Küche, froh zwei Minuten allein zu sein.

„Das riecht aber lecker“ schon wieder stand er hinter ihr, genauer gesagt in der Türöffnung, mindestens zwei Meter entfernt, dennoch meinte sie seinen Atem in ihrem Nacken zu spüren, und es war kein angenehmer Schauer, der ihr dabei über den Rücken lief.
„Ich hoffe, du magst Lasagne. Ich habe ganz vergessen vorher zu fragen. Wenn du Vegetarier oder Veganer bist, bleibt leider nur der Salat – oder ich muss mir noch schnell eine Alternative einfallen lassen.“
„Nein, nein, ich mag Lasagne sehr gerne, und ich liebe Fleisch“ Seine Augen hatten jetzt wieder das bernsteinfarbene Funkeln, das ihr im Wald schon einmal aufgefallen war.
„Gut, dann bin ich ja beruhigt“ log sie und vermischte Salat und Dressing.
„Hier, wenn du magst, kannst du die Salatschüssel schon mal rüberbringen, die Lasagne müsste auch gleich fertig sein“ Sie reichte ihm die Schüssel, darauf achtend, dass sich ihre Finger nicht berührten, und er verschwand damit im Wohnzimmer. Sie öffnete das Küchenfenster weit und atmete dreimal tief die kühle Herbstluft ein, um sich ein wenig zu beruhigen. Der Mond schimmerte fast voll durch die herbstleeren Bäume.

„Hast du einen Korkenzieher?“ Er stand erneut hinter ihr. „Du trinkst doch Rotwein?“ „Nein, danke, für mich nicht, ich bekomme davon immer Sodbrennen“. Sie log schon wieder. „Aber du darfst natürlich gerne, der Korkenzieher ist in der zweiten Schublade von oben, ganz rechts“. „Nein, allein schmeckt er mir auch nicht. Wenigstens ein kleines Schlückchen probieren? Ich verspreche dir, von dem bekommst du weder Kopfschmerzen noch Sodbrennen“. „Na gut, aber wirklich nur einen kleinen Schluck“. Manchmal war Nachgeben einfacher. Heimlich sah sie auf die Uhr, es war erst 19:15. Wenn dieser Abend doch nur schon vorbei wäre.

Die Lasagne war gelungen und schmeckte seinen Beteuerungen nach vorzüglich. Sie hatte überhaupt keinen Appetit mehr und aß nur eine winzige Portion und selbst die nicht komplett auf. Er versuchte nur dreimal, ihr Rotwein nachzuschenken, bevor er aufgab, und das Gespräch plätscherte auf ungefährlichen Gebieten und ohne peinliche Pausen vor sich hin. Dann waren sie fertig mit dem Essen, und sie stellte das Geschirr zusammen. Er half ihr, alles in die Küche zu tragen, und sie hatte wieder Schwierigkeiten, ihre Genervtheit und ihr Unwohlsein unter Kontrolle zu bekommen, weil er ständig hinter ihr zu sein schien.
„Oh, ich habe ja noch eine Überraschung für dich“, sagte er, als sie mit den letzten Tellern im Flur an seinem Korb vorbeikamen. „Warte mal eben, dann zeige ich es dir.“ Sie blieb widerwillig stehen und drehte sich zu ihm um. Er kramte im Korb herum, fand endlich das Gesuchte und hielt es ihr freudestrahlend entgegen.

Es war ein Messer, und mit einem erstickten Wimmern wich sie zurück.
„Was hast du denn, geht es dir nicht gut?“ Er kam näher, und jetzt hätte sie fast aufgeschrien, aber da stürzte er wie vom Blitz getroffen der Länge nach in ihren Flur und regte sich nicht mehr. Sie schluchzte leise und stand eine gefühlte Ewigkeit in der Küchentür, auf den Toten mit dem Messer in der Hand zu ihren Füssen schauend, nicht wissend, was sie jetzt machen sollte.

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Natürlich war er nicht tot. Schon kurze Zeit darauf kam er leise stöhnend wieder zu sich, setzte sich auf und sah sich verwirrt um. Das vermeintliche Messer, das ihm inzwischen aus der Hand gefallen war, stellte sich als ein Eiersollbruchstellenverursacher heraus. Und der Blitz, der ihn getroffen hatte, war das heraushängende Stück Staubsaugerkabel, über das er gestolpert war.

Er saß auf der Couch, ein Kühlpack an die schmerzende Schläfe pressend, sie immer noch leise weinend. „Es tut mir so leid, aber ich dachte…“
„Wie konntest du nur glauben, dass ich dir etwas antun will?“ Seine Augen hatten inzwischen wieder das warme Braun, das sie aus der Buchhandlung kannte, jetzt zusätzlich mit einem Schuss „waidwundes Reh“. „Wir hatten uns doch neulich darüber unterhalten, und ich wollte dir beweisen, dass Eiersollbruchstellenverursacher keine Erfindung von mir sind, sondern dass es sie wirklich gibt.“
Sie sah ihn hilflos flehend an. „Tut es denn noch sehr weh, sollen wir nicht vielleicht doch den Notarzt rufen oder ins Krankenhaus fahren?“
„Nein, wirklich nicht, es ist alles in Ordnung, wird wohl nur eine Beule geben.“ Er sah sie nachdenklich an. „Aber es ist vermutlich besser, wenn ich jetzt gehe.“ Dem stimmte sie – teils schuldbewusst, teils erleichtert zu. Der Abschied fiel ein wenig kühl aus, von einem weiteren Treffen war nicht die Rede.

Sie schloss die Tür hinter ihm, ließ sich erschöpft auf die Couch sinken, und sah erst beim Gang ins Bad eine halbe Stunde später, dass er seinen Korb vergessen hatte. Darin fand sie neben diversen DVDs ein großes Fleischermesser.

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Am Tag darauf brachte sie den Korb in den Keller, ohne erneut hineinzusehen, schob ihn hinter einen Stapel Kartons und versuchte, den Abend, den Korb und vor allem ihn zu vergessen.

Ein paar Wochen später holte sie die Weihnachtsdeko aus dem Keller und stieß dabei versehentlich an den Korb, der daraufhin umfiel und seinen Inhalt auf dem Boden verstreute. Sie wich zurück wie vor einer großen Spinne, aber da war kein Messer, nur ein Stapel DVDs, die sie mit spitzen Fingern und verwirrtem Kopf wieder einsammelte.

Am nächsten Tag rief er an. Sie erkannte die Stimme sofort, und augenblicklich wurde ihr erst eiskalt, dann sehr heiß. „Ich glaube ich habe neulich meine DVDs bei dir vergessen. Hast du dir denn die Filme mal angeschaut in der Zwischenzeit?“ Er klang unbeschwert und gutgelaunt. Sie murmelte etwas von „noch nicht dazu gekommen, keine Zeit, es war immer so viel los“. Jetzt kam das Unvermeidliche, er fragte, ob und wann er sie abholen könne. Sie schluckte und setzte sich ein wenig gerader hin. Sie würde sie ihm gerne schicken, schlug sie vor, er müsse ihr nur seine Adresse geben, oder sie würde sie ihm vorbeibringen, wenn sie mal wieder in der Gegend sei. „Ach, das ist doch viel zu umständlich, für mich ist es doch einfacher, sie bei dir abzuholen“. Sie wand sich und bot als Kompromiss und um der Sache ein Ende zu bereiten ein Treffen in der Stadt an. Darauf ging er ein, und man einigte sich schnell auf Ort (das Café der Buchhandlung, in dem sie bei ihrem ersten Zusammentreffen gesessen hatten) und Zeit.

Am verabredeten Tag war sie viel zu früh im Café, bestellte einen Tee und wartete nervös.
Eine halbe Stunde nach dem vereinbarten Zeitpunkt war er immer noch nicht gekommen, das Handy blieb stumm. Sie versuchte, ihn anzurufen, bekam jedoch nur die Nachricht, der Teilnehmer sei zur Zeit nicht erreichbar. Kurz überlegte sie, den Korb einfach stehenzulassen oder auf dem Weg zum Auto wegzuwerfen, aber die Mülleimer waren zu klein, und so nahm sie ihn wieder mit nach Hause.

Am Abend sah sie in den Lokalnachrichten, dass auf einer Bundesstraße, unweit des Parkplatzes, an dem sie sich zu ihrem Waldspaziergang getroffen hatten, ein Wolf von einem LKW überfahren worden war.


Dezember 2019 – Juli 2020

Fremde Federn

Man kann sich seine Aufgaben nicht immer aussuchen, manchmal suchen sich auch die Aufgaben den aus, der sie zu erledigen hat. Meine Aufgabe heißt Oli. Wie viele – nun ja – eher mittelgroße Menschen hat Oli von klein auf versucht, diesen empfundenen Makel mit seiner großen Klappe und seinem noch größeren EGO zu übertönen. Oli spricht viel und laut und hat zu allem eine Meinung. Zuhören ist dagegen keine seiner Kernkompetenzen, was mir meine Aufgabe nicht unbedingt erleichtert.

Die Geschichte, von der ich hier berichte, nimmt ihren Anfang in einer Spätsommernacht im Taunus. Oli ist mit seinem Schwager Volker unterwegs. Vollbepackt und vorsichtig pirschen sie sich an die Stelle heran, die ihnen der Förster verraten hat. Der Wald steht schwarz und schweiget. Volker und Oli gehen schweigend – Volker schweigt ohnehin meistens, Oli ausnahmsweise. Nur im Unterholz raschelt es ab und zu missbilligend, wenn sie trotz aller Behutsamkeit auf ein trockenes Ästchen treten oder einen Zweig streifen. Am Rande der Lichtung legen sie ihre Ausrüstung ab und richten sich auf eine längere Wartezeit ein. Sonnenaufgang ist erst in knapp einer Stunde. Aber vor der Sonne hat noch jemand anders seinen großen Auftritt: die Blaue Stunde. Und mit ihr hoffentlich ein paar Bewohner des Waldes, die unsere beiden Helden mit schussbereitem Gerät in Empfang nehmen wollen.

Schon nach zehn Minuten tun Oli die Knie weh und er dreht sich ächzend ein wenig herum, was ihm einen strafenden Blick von Volker und das gemeine Zwicken eines spitzen Steins im Bereich seiner unteren Lendenwirbelsäule einträgt. Kalt ist es außerdem. Und wer hatte eigentlich die hirnrissige Idee, mitten in der Nacht hierherzufahren? „Ich“ meldet sich ausnahmsweise kleinlaut Olis Angeber-EGO, das sonst gerne laut und prahlerisch „kein Problem“ ruft und dem jetzt anscheinend auch kalt ist.

Die Stunde färbt sich langsam blau, die vier anwesenden menschlichen Augen sehen das nicht, die App auf Olis Smartphone dagegen schon, oder bessergesagt: Sie kennt eine Datenbank, die eine Datenbank kennt, die es ihr verrät. Oli hört ein leises Klacken neben sich, Volker wird bereits aktiv, und so bringt sich auch Oli vorsichtig in Position. „Nicht so laut schnaufen!“, ermahne ich ihn gerade noch rechtzeitig. Oli atmet so flach wie möglich und schaut gespannt Richtung Osten, bereit für den ersten Schuss des Tages. Da passiert das Unvorhergesehene, das eigentlich Unmögliche und Unaussprechliche.

„Speicherkarte voll“ meldet das Kameradisplay. „Mist“ knurrt es hinter Olis Zähnen. Und hinter seinen Augen sieht er sein „Ich“ von vor einigen Stunden, wie es kurzfristig alles in den größeren Rucksack umpackt, damit auch das lange Teleobjektiv hineinpasst. Alles? Nein, eben nicht alles. Und das passiert ihm, ausgerechnet ihm, der „Speicherkarte leer – Akku voll, bloss nicht verwechseln“ als dröhnenden Leitsatz ständig jedem auf die Nase beziehungsweise aufs Ohr bindet, der es hören oder nicht hören will. Ich kichere schadenfroh in mich hinein.

Oli robbt sich ein wenig in Volkers Richtung und stupst ihn an. „Kannst du mir eine Speicherkarte leihen“. „Ja klar.“ Volker wühlt in seiner Jackentasche und reicht ihm eine herüber. Nett von ihm, dass er weder Fragen stellt, noch sich lustig macht.

Drei Stunden später lädt Oli in seinem Arbeitszimmer die Ausbeute des Morgens auf den PC. Nanu? Da waren ja schon Bilder auf der Karte gewesen? „Typisch Volker, dass er seine Karten nicht formatiert, bevor er sie wieder einsteckt“ denkt Oli. „Da kenne ich noch jemanden“ denke ich.

Volkers Dateien sind von ihrem letzten gemeinsamen Ausflug zur Mosburg, und da er normalerweise seine Bilder nicht zeigt, schaut Oli sie sich jetzt sehr gespannt an.
Volker ist in Olis Augen ein Spinner. Aber er ist gleichzeitig sein Schwager, und ihre Frauen und das geteilte Doppelhaus sorgen dafür, dass sie ständig aufeinandertreffen. Dass sie beide das gleiche Hobby haben, bringt zusätzliche Berührungspunkte, und irgendwie ist er ja meistens ein ganz netter Spinner, auch wenn er nie auf Olis Ratschläge hört. Sonst hätte er nämlich bei diesen Bildern ein Stativ benutzt. Oder sich mal ein anständiges Objektiv gekauft, anstatt immer mit diesen Uraltscherben zu fotografieren. Da kann ja nichts knackig scharf werden.

Seit ewigen Zeiten liegt er Volker in den Ohren, doch mal zum Fotoclub mitzukommen oder sich wenigstens bei Facebook anzumelden, aber Volker lächelt immer nur wie der Kater, wenn man versucht, ihn aus dem Bett zu vertreiben: weise und ein wenig indigniert.

Oli richtet eines der Bilder gerade und optimiert die Tonwerte. An der Schärfe lässt sich definitiv nichts mehr ändern. Und lädt es zusammen mit einigen seiner Fotos bei Facebook hoch, gespannt darauf, was die Fachleute dort dazu sagen werden.

Zwei Minuten später schreibt Jochen – er ist der erste Vorsitzende des Fotoclubs: „Super Bild, das sind ja ganz neue Seiten an dir, weiter so!“ Das kann er doch nur ironisch meinen. Am Abend zweifelt er langsam an seinen Augen oder seinem fotografischen Verstand: Volkers Bild bekommt mehr Likes und Kommentare als je eines seiner eigenen Fotos. Ja spinnen die denn alle? „Mit welchem Objektiv er das Bild wohl gemacht hat“, überlegt er, „wahrscheinlich das 85er“. Oli hat ein paar Meter neben ihm gestanden und mit seinem 100er einen ähnlichen Ausschnitt fotografiert. Mit Stativ. Knackscharf. Und überhaupt ganz anders.

Am Tag darauf gibt er Volker die Speicherkarte zurück. Er hat sie nach einem winzigen Zögern – da habe ich kurz gehüstelt – vorher formatiert. „Kannst du mir übrigens mal dein 85er leihen, ich würde da gerne was ausprobieren“ Volker guckt ein wenig überrascht, weil Oli doch sonst immer nur über seine Objektive spottet, sagt aber bereitwillig: „Klar, gerne.“

Noch einen Tag später steht Oli mit seiner Kamera, Volkers Objektiv, ohne Stativ und ohne Volker an der Mosburg und versucht das Bild zu reproduzieren. Um es kurz zu machen, es gelingt ihm nicht. Der Ausschnitt stimmt annähernd, der Rest nicht. „Liegt bestimmt am Licht. Oder daran, dass ich eine andere Kamera habe. Oder daran, dass ich beim Fotografieren nicht so dämlich grinse wie Volker manchmal“ vermutet er und löscht seine Versuche frustriert.

„Oli, willst du nicht dein Bild von der Mosburg zu unserem Monatswettbewerb einreichen? Passt doch zum Thema wie die Faust aufs Auge“ Jochen sitzt beim Fotoclubtreffen diesmal neben Oli, worüber er sich freut, aber dass er ihn ausgerechnet auf dieses Bild anspricht, gefällt ihm nicht so. „Klar, warum nicht“ murmelt er ein wenig ausweichend. „Ja, warum eigentlich nicht?“, überlegen er und das EGO später zu Hause. „Bei Volker vergammelt es auf der Festplatte, wenn er es nicht eh schon gelöscht hat. Er hat es quasi im Vorbeigehen geknipst, während ich mir über dieses Bild bestimmt jetzt schon mehr Gedanken gemacht habe als er. Und wer hat den Horizont gerade ausgerichtet und die Tonwerte korrigiert? Genau!“ Mein leises „Spinnst du? Warst du es nicht, der erst neulich im Fotoclub einen Vortrag über das Urheberrecht gehalten hat?“, überhört er.

„Denk an den Wettbewerb“ schreibt Jochen abends nochmal bei Facebook unter den Beitrag. Oli, der Ehrliche müsste spätestens jetzt das Bild dort und von seiner Festplatte löschen. Aber Oli, der Ehrliche hat vor langer Zeit aus seiner dummen Rechtschaffenheit gelernt. Glaubt er. Und hat sich daraufhin in Oli, den Schlauen verwandelt, der das Glück beim Zipfel packt, wenn es ihm winkt, immer in der Hoffnung, dass kein Kosake dranhängt.

„Gratuliere, Oli“ ruft Jochen Wochen später quer über die Straße, und natürlich stehen Volker und die Frauen ebenfalls im Garten und wollen sofort wissen, was es zu beglückwünschen gibt.

Olis EGO ist von frühester Jugend an gut gefüttert worden, ich dagegen bekam immer nur die Reste. Deshalb bin ich so klein und unscheinbar – aber dennoch oho und erfinderisch. Nachts zwischen drei und vier, wenn das EGO mit seinem ständigen „Du bist so ein toller Kerl, Oli. Erzähl doch weiter, das wollen bestimmt alle ganz genau wissen“ endlich mal Ruhe gibt, kommt meine große Stunde. Dann streichele ich Olis Seele ein wenig und bin ein sanftes Ruhekissen. Aber nur, wenn ich gut drauf bin. Bin ich dagegen schlecht drauf, trete ich im Brustkorb in der Magengegend gegen eine bestimmte Stelle. Und wenn ich sehr schlecht drauf bin, so wie jetzt, wage ich das sogar tagsüber. Das EGO ist damit beschäftigt, Jochens Glückwunsch ins Regal mit der Beschriftung „Olis schönste Erlebnisse“ zu stellen, und merkt das nicht.

Oli wird es ein wenig komisch im Magen. „Das ist bestimmt das zu schnell heruntergeschlungene Mittagessen“, vermutet er. „Ach, ich habe beim Monatswettbewerb den ersten Preis gemacht“, sagt er ungewohnt bescheiden. Dass er ausgerechnet diesmal gewonnen hat, versteht er nicht. Seine bisherigen eingereichten Bilder waren in seinen Augen alle zehnmal besser und haben es doch immer nur unter „ferner liefen“ oder bessergesagt unter „ferner fotografierten“ geschafft.

„Zeig doch mal“, „warum hast du denn davon gar nichts erzählt“ rufen die Frauen durcheinander, nur Volker schweigt, wie meistens. „Später. Jetzt lasst uns erstmal Kaffeetrinken“ lenkt Oli ab und hofft, dass der Tee, den er sich kocht, gegen dieses komische Magendrücken hilft.

Später haben sie es zum Glück wieder vergessen. Nur seine Frau erinnert sich abends im Bett an seinen ersten Preis. „Morgen“ sagt Oli und dreht sich auf die Seite, damit der Magen endlich Ruhe gibt.

Ausgerechnet in diesem Jahr organisiert der Fotoclub eine Ausstellung im Bürgerhaus, und ausgerechnet in diesem Jahr werden alle Monatsthemengewinnerbilder des vergangenen Jahres ausgestellt, erfährt er beim nächsten Clubtreffen. Aus der Nummer kommt er nicht raus, es sei denn, ein Virus zerstört bis zum Abgabetermin seine sämtlichen Festplatten inklusive des Backups in der Cloud oder ein Hochwasser spült das ganze Doppelhaus und ihn am besten gleich mit fort. Während er weitere Horrorszenarien andenkt, in denen unter anderem im Darknet angeheuerte Hacker und ein Brand im Bürgerhaus vorkommen, wird ihm irgendwann klar, dass er ja nur verhindern muss, dass Volker zur Ausstellung kommt.
„Das vereinfacht die Sache natürlich erheblich, jetzt sollte ich nur noch überlegen, wie ich ihm ein starkes Abführmittel ins Essen mische oder die Beine breche, damit er an dem Tag im Krankenhaus liegt.“ Er schüttelt den Kopf über sich selbst, das EGO ist mal wieder keine große Hilfe und auf mich hört ja niemand.

„Wollen wir nicht nochmal eine Woche zusammen ins Ferienhaus nach Bayern fahren?“, schlägt er am darauffolgenden Tag vor. „Im November?“ „Volker hat gar keinen unverplanten Resturlaub mehr“ „Wir sind doch eh schon im Dezember zusammen im Urlaub“ Seine Idee ist zerschmettert, bevor er sie weiter vorbringen kann. Und der November und damit die Vernissage rücken unerbittlich näher.

Das Foto sieht gedruckt und in groß an der Wand immer noch unscharf und wie im Vorbeigehen geknipst aus, aber der Fotoclub ist hellauf begeistert, als sie am Tag vor der Vernissage die Bilder aufhängen. Es bekommt sogar einen Ehrenplatz, direkt gegenüber vom Eingang. „Ganz toll“ sagt das EGO und „na toll“ sage ich.

Am Abend kommt Volker zu Oli herüber. Die Frauen sind im Kino, sie sind alleine. Das erste Mal seit langer Zeit, stellt Oli fest. Fotografieren waren sie schon viele Wochen nicht mehr gemeinsam, der Terminkalender war zu voll. „Ausreden, alles Ausreden“ sage ich leise. Und als das EGO mich nicht sofort niederbrüllt, fahre ich fort „das wäre jetzt die Gelegenheit. Erzähle ihm alles, er wird es verstehen“. „Quatsch!“ Das EGO ist doch nicht eingeschlafen. „Dazu ist es zu spät. Und überhaupt: Wetten, er erkennt sein eigenes Bild nicht, wenn er davorsteht?“ Ich will nicht wetten.

Volker sieht uns forschend an. „Ist alles ok bei dir“, fragt er vorsichtig. Ich räuspere mich leise. Aber Oli sagt „Doch, alles ok. Ich hab nur in letzter Zeit häufiger so ein komisches Magendrücken, zu viel Stress vermutlich, sonst ist alles bestens.“ „Das solltest du aber unbedingt mal abchecken lassen, wenn es nicht besser wird“ mahnt Volker. Oli nickt, und dann ist der Moment vorbei und Volker trottet wieder nach Hause.

Am Tag der Vernissage überlegt Oli kurz krank zu spielen. Bei dem Druck im Magen wäre das nicht einmal gelogen. Aber seine Frau würde ihm entweder nicht glauben oder ihn zum ärztlichen Notdienst schleifen. Beide Varianten gefallen ihm noch weniger, als zur Vernissage zu gehen.

Durchs Fenster sieht er Volker aus seiner Tür kommen. „Jetzt“ brülle ich, „das ist deine letzte Chance“ und er rennt tatsächlich raus. „Volker, ich muss dir unbedingt was sagen, hast du eine Minute?“ „Jetzt nicht, tut mir leid, ich muss ganz dringend was erledigen. Geht ihr schon mal vor, wir treffen uns dann im Bürgerhaus.“ Und weg ist er. „Tja“ kommentieren das EGO und ich im Chor.

Die Vernissage ist ein voller Erfolg. Oli wird von vielen Leuten auf das Bild – nach dem zweiten Glas Sekt denkt er nur noch MEIN Bild – angesprochen. Er schüttelt Hände, beschreibt, wie er es fotografiert hat und was er damit ausdrücken will. Nach dem dritten Glas Sekt fällt ihm auch das nicht mehr schwer. Und er fragt sich (oder mich), wieso er sich (oder ich ihm) so viele Gedanken gemacht hat. Dann sieht er aus dem Augenwinkel Volker hereinkommen, und binnen Sekunden bricht seine kurzfristige Hochstimmung in sich zusammen wie ein dilettantisch aufgebautes Billigstativ, wenn man eine schwere Kamera daraufstellt. Die Wirkung des Sekts ist schlagartig verflogen „Diebstahl“ hört er es rufen. „Betrug“ ruft eine andere Stimme, ich bin es nicht. Oli kann seinem Gesprächspartner nur noch mühsam folgen, die Welt sieht ein wenig verschwommen aus, der Lärm der vielen Menschen dröhnt in seinen Ohren, und es ist kein Tarnumhang griffbereit, der ihn unsichtbar werden ließe. Oder besser noch: eine „Machmichrückgängig“ Uhr. Ich verkneife mir jedes „Hab ich dir doch gleich gesagt“ und das EGO hat sich in eine dunkle Ecke hinter den Blinddarm gekauert und ist so kleinlaut, wie ich es sehr lange nicht erlebt habe.

Volker schlendert herum, begrüßt ein paar Bekannte und schaut sich alles an. Hat er sein Bild schon gesehen? Oli schluckt trocken, ihm ist kalt und heiß zugleich, jedes Mauseloch wäre ihm jetzt recht. Aber da hat Volker ihn entdeckt und bahnt sich einen Weg durch das Getümmel. Jochen fängt ihn ab, die beiden sprechen kurz miteinander. „Geht es dir nicht gut, Oli“, fragt jemand, „du siehst so blass aus.“ Dann steht Volker auf einmal neben ihm, lächelt, stößt mit uns an und macht Smalltalk. Oli versteht kaum ein Wort, ein Teil von ihm wartet immer noch auf einen Schlag, der aber nicht kommt. Seine Augen können das nicht glauben und zucken ständig, das Herz rast, als würde es sich gerne ohne seinen Körper aus dem Staub machen und sein Magen verlangt dringend nach einer Toilette.

Dann ist es vorbei. Wie betäubt läuft er auf dem Rückweg neben den anderen her. „Du bist ja so still“ wundern sich die Frauen, und Volker schweigt wie meistens. Erst beim Abschied an der Haustür sagt er leise zu ihm „Es war übrigens nicht das 85er“.


Juli 2020

In eigener Sache

So, einmal gründlich durchgefegt, Spinnweben entfernt, einige neue Objekte in die Regale gestellt, der Website ein neues Kleid angezogen. Muss noch an der einen oder anderen Stelle angepasst werden, aber es sollte jetzt immerhin endlich „fully responsive“ sein. Wer etwas findet, was nicht funktioniert wie es sollte, darf sich gerne melden.