(Weil ich in diesem Jahr wieder in Irsee war, diesmal zum Fotografieren, habe ich meinen alten Text von 2018 noch einmal herausgekramt. Diesmal war übrigens alles ganz anders, dazu irgendwann einmal mehr.)
Bewerbungspräludium – Die erste Seite
„Bist du bescheuert?“
Die Stimme der Vernunft klingt ungläubig, ein wenig fassungslos und ziemlich entsetzt.
Ich gucke wortlos aber möglichst selbstsicher zurück, was nur halb gelingt. Wortlos klappt immerhin.
„Hast du nicht genügend andere Baustellen? Hast du nicht erst neulich wieder festgestellt, dass du aufpassen musst, dich nicht zu verzetteln? Denk an letztes Jahr und wie es dir da ging mit all den halbherzig angefangenen Projekten. Wenn dir langweilig ist, entrümple endlich den Dachboden, das wäre wenigstens sinnvoll!“
Sie hat ja Recht. Einerseits. Aber andererseits? Im Sommer ist es auf dem Dachboden eh viel zu heiß.
„Du hast ja von diesem – wie heißt er noch gleich? – bisher noch nicht mal was gelesen. Und willst du dich da ernsthaft zwischen zwölf andere Teilnehmer setzen, die bestimmt alle schon mindestens ein bis zwei Romane geschrieben oder im Kopf haben? Die vermutlich im Schnitt 30 Jahre jünger sind? Ganz tolle Ideen haben? Genau wissen, was sie wollen? Schreiben können?“
Jetzt könnte ich eh sagen was ich will, sie würde nicht mal zuhören. Dass mich das mit der 13. Reihe angesprochen hat zum Beispiel. Oder die Suche nach der Schatzinsel, oder das Foto vom schönsten Gegenstand, den ich kenne.
„Und wie kommst du überhaupt darauf schreiben zu wollen, vom Können mal ganz zu schweigen. Halb lustige Anekdoten, Büromails und langweiliges Tagebuchgeschreibsel zählen nicht.“
Die Stimme wird schriller. Sie kann ganz schön fies sein. Wäre sie fassbarer hätte ich sie vermutlich schon längst erwürgt. Oder gefesselt, die Füße mit Salz eingerieben und eine Ziege bestellt. So habe ich nur die Wahl zwischen Argumentieren und Ignorieren. Ich ignoriere weiter und klicke mich durch die Kursdetails.
„Wenn es denn unbedingt sein muss, guck doch mal bei der VHS, die haben doch auch immer so schöne Kurse, hier in der Nähe und gar nicht teuer.“
Die Stimme klingt jetzt wieder sanfter, überredender. Immerhin schlägt sie mir nicht vor, „Scheitern für Dummies“ zu belegen.
„Du weißt ja nicht einmal, wie lang so eine Seite üblicherweise
Ast 1 – Über die Schwierigkeiten, eine Geschichte zu schreiben
Wenn Bäume denken und sprechen, dann tun sie das im Allgemeinen genauso langsam und bedächtig wie sie alles andere tun. Denn schließlich spielt es normalerweise keine Rolle, ob sie heute noch oder morgen oder gar erst in einem Jahr diesen Gedanken zu Ende bringen – solange in der Zwischenzeit niemand anders darüber nachdenkt sie zu fällen.
Der Baum, der in dieser Geschichte – wenn es denn überhaupt eine wird – eine Hauptrolle spielt ist eine Eiche und steht schon viele, viele Jahre (das ungefähre Alter einer Eiche lässt sich ermitteln, indem man den Umfang in einer Höhe von 1,50 m misst und mit 0,8 multipliziert, sagt das Internet. Mein Augenmaß misst 1,20 m, das ergäbe ein Alter von knapp 100 Jahren) im Park des Klosters.
Vielleicht hatte irgendein Eichhörnchen damals an dieser Stelle ein Winterversteck und eine Eichel übersehen. Oder der Frühling kam sehr früh in jenem Jahr. Der damals für den Klostergarten zuständige Mensch rupfte den jungen Trieb nicht heraus, sondern ließ ihn wachsen, bis irgendwann ein stattlicher junger Baum daraus geworden war. Unter dem dann wieder Eichhörnchen ihre Wintervorräte sammeln und verstecken konnten, aber das ist vermutlich eine andere Geschichte.
Jetzt in diesem Moment sitzen gerade einige Menschen unter dieser Eiche und schreiben an ihren Geschichten. Aus den weit geöffneten Fenstern hört man den Chor proben, teilweise dieselbe Stelle immer und immer wieder. Wer schon einmal in einem Chor gesungen hat, weiß, dass Chorleiter da sehr unerbittlich sein können. Die Fontäne des Brunnens sprudelt und sprudelt, würden nur meine Ideen genauso sprudeln. Stattdessen plage ich mich weiter mit einem Anfang herum bzw. Anfänge habe ich bereits einige, aber keine Idee, wie daraus eine halbwegs brauchbare Geschichte werden könnte. Der Baum wirft eine Minieichel auf mich herunter. Hättest du nicht noch ein wenig wachsen sollen, bevor du dich vom Baum stürzt? Oder waren die anderen Eicheln da oben gemein zu dir, so dass du keinen anderen Ausweg wusstest? Ich bin albern… So wird das auch nichts mit der Geschichte.
Es ist fast windstill an diesem Nachmittag, nur ab und zu weht ein ganz leichtes Lüftchen vorbei. Aber im Schatten ist es dennoch genau richtig warm. Eigentlich würde ich jetzt lieber mit der Kamera irgendwo herumstreifen, vorhin auf dem Weg zur Gedenkstätte sah ich eine Abzweigung zu einer Wiese mit Apfelbäumen. Die Eiche über mir knarzt missbilligend, vermutlich so etwas wie „bin ich dir etwas nicht gut genug? Oder warum faselst du von Apfelbäumen? Die Energiedichte meiner Früchte ist um einiges höher als die von Äpfeln, und das mit dem „keeps the doctor away“ wird auch überbewertet. Und überhaupt: „An Acorn a day keeps two doctors away“ – gab es da nicht einen Sketch von Monty Python, wo die Schlange der ferngehaltenen Ärzte immer länger wurde? Ich schweife immer weiter ab.
„Und überhaupt“ kommt die Eiche wieder auf den vermeintlichen Punkt „bin ich unter anderem ein Friedenssymbol. Hat man etwas ähnlich Bedeutsames schon mal von Apfelbäumen gehört?“ Mir fielen jetzt spontan die Apfelbäume des Herrn Goethe ein, aber so richtig beweisen in puncto Bedeutsamkeit kann ich es ihm auch nicht, also sage ich lieber nichts. Und wieso heißt es „die Eiche“, aber ich habe das Gefühl, mit einem Mann zu diskutieren?
Es ist sehr schön, in dieser Atmosphäre friedlich zusammenzusitzen, nur das Geplapper hinter meinen Augen nervt gerade wieder, ist es doch wenig zielführend. Immer noch keine Geschichte zu erahnen. Vielleicht sollte ich doch mit dem Salat anfangen. Aber dann müsste ich strenggenommen mit dem Whisky aufhören, und das will ich nun wirklich nicht. Scheitern für Fortgeschrittene, immerhin. Hätte ich mal auf die Stimme der Vernunft gehört, oder vielleicht doch nicht? Erstmal aufstehen und ein wenig bewegen. Eine halbe Stunde und einige Fotos später kehre ich etwas erfrischt zurück zu Notebook und Eiche. Letzterer schmollt jetzt, weil ich bei den Apfelbäumen war. Er kann über die Klostermauer sehen. Dann wird er aber doch kommunikativer, oder vielleicht höre ich auch einfach besser zu.
„Wie wäre es denn zum Beispiel mit einem Krimi. Mord im Kloster. Ein irrer Abt schlafwandelt durch die Flure und bringt dabei versehentlich Besucher um. Der Kommissar, ein Meter neunzig, ein Kerl wie eine Eiche, kommt ihm nur auf die Schliche, weil er selber schlafwandelt“
„Toll, ganz toll. Und wieso eigentlich ein Meter neunzig?“
Die Eiche schweigt beleidigt, aber nur kurz. Die Kastanien nebenan kichern ein wenig gehässig. „Dann vielleicht: jemand steigt aus Versehen am Bahnhof in ein Zeitreisetaxi und landet zwar in Irsee aber im falschen Jahrhundert“
„Ganz nett aber zu kompliziert, jedenfalls für die Kürze der Zeit. Und außerdem hast du den irren Abt vergessen“
Jetzt ist er wirklich beleidigt.
„In jedem Fall solltest du aufhören, unsere Dialoge aufzuschreiben, am Ende glauben die anderen sonst wirklich noch, dass du mit Bäumen sprichst oder Stimmen hörst“
„Dann mach einen besseren Vorschlag und ich fang sofort an aufzuhören.“
Die Eiche überlegt eine Weile, man hört seine Gedanken rascheln.
Ast 2 – Personalsuche
Zweiter Tag der Suche nach der Schatzinsel. Dieselbe Eiche, eine ähnliche Anordnung der Liegen.
Diesmal habe ich relativ spontan eine Idee, schreibe los über einen mir unbekannten Teilnehmer eines mir unbekannten Seminars („Führen im digitalen Zeitalter“), der unter der mir bekannten Eiche sitzt und sich mehr oder weniger existenzielle Fragen stellt. Je näher ich ihn kennenlernen möchte, desto bekannter kommt er mir vor. Ich kann ihn zwar „er“ nennen oder ihm sonst einen Namen geben, ich kann ihm eine Biographie verpassen, die mit meiner möglichst wenig zu tun hat, trotzdem ist er doch nach kurzer Zeit oder eigentlich von Anfang an ich.
„Moment mal“ eben noch klang seine Stimme ein wenig selbstmitleidig, als er sich in der Beschreibung seines beruflichen Werdegangs und der Erklärung warum er kein Businesskasper sein will verlor. Jetzt plötzlich klingt sie energisch.
„Natürlich bin ich eine eigenständige Persönlichkeit, vielleicht guckst du einfach mal ein wenig genauer hin?“
Wie um mir das zu erleichtern steht er von der Bank auf und sieht mich auffordernd oder vielleicht eher herausfordernd an. Sein Allerweltsgesicht bekommt auf einmal markantere Züge, seine Schultern straffen sich.
„Naja, aber die Ähnlichkeiten muss ich dir ja jetzt wohl nicht einzeln aufzählen“ Was er an Selbstsicherheit gewinnt scheint mir im gleichen Maße abhandenzukommen.
„Letztendlich sind es immer die Unterschiede, die zählen“ Er hat sich wieder gesetzt und lädt mich mit einer Handbewegung ein, mich zu ihm zu setzen.
„Also ich weiß ja nicht, aus welchem Ratgeber du diesen Spruch hast, aber nein, das sehe ich anders, die Gemeinsamkeiten zählen, im Roman wie im richtigen Leben.“
„Gemeinsamkeiten.“ er schnauft verächtlich „Davon bleibt nur nicht viel übrig, wenn es darauf ankommt. Sieh dir meine Ehe an. Eben wegen der Gemeinsamkeiten wurde sie irgendwann so langweilig, dass keiner mehr einen Grund hatte, mit dem anderen überhaupt noch zu reden, also über mehr als das Wetter, die Kinder und was man am Tag so gemacht hatte.“
„Für deine Langeweile kann ich aber nichts.“ Ich merke selber, dass das ein wenig lahm klingt.
„Natürlich du, wer denn sonst? Hättest dir halt ein wenig mehr Mühe geben sollen, dann säße ich jetzt vergnügt mit den übrigen Führungskräften im Biergarten, würde von meiner glücklichen Familie, meinem Boot und meinem Haus erzählen, erfolgreich Netzwerken und übermorgen zu Hause meiner Frau – wie heißt sie eigentlich, meine Ex? Ach ja richtig, du hast ja bisher noch nicht einmal für mich einen Namen – von diesem Seminar und seinen positiven Impulsen für unsere gemeinsame Zukunft vorschwärmen, anstatt mich hier im Garten erst alleine in Selbstzweifeln zu zerbröseln um danach dir zu erklären, was du falsch gemacht hast, als du mich geschaffen hast.“
„Deine Exfrau heißt Dagmar, du hast sie Daggi genannt, eure Kinder heißen Kevin und Chantal, und du….heißt…. Detlef. Sie hat dich immer nur Detlef genannt. Daggi und Detlef, ein echtes Traumpaar“. Wenn er gemein ist, darf ich es auch sein. Haben wir doch gleich wieder eine Gemeinsamkeit. Ihn scheint das aber nicht zu stören, oder er lässt es sich einfach nicht anmerken.
„Und wie haben wir uns kennengelernt, Daggi und ich?“ fragt er stattdessen neugierig. Als ob er nicht selber dabei gewesen wäre. „Im Skiurlaub mit gemeinsamen Freunden, und sie konnte dich zuerst überhaupt nicht ausstehen“ was mich, je besser ich ihn kennenlerne auch nicht wirklich verwundert.
„Aber dann hat sie ihre Meinung anscheinend geändert“
„Ja, aber das spielt alles für diese Geschichte hier überhaupt keine Rolle“
„Woher willst du das denn jetzt schon wissen?“
„Ich weiß es halt.“ beharre ich stur.
„Nein, das weißt du nicht, und es wäre ein Leichtes, dir das zu beweisen, aber ich lasse dich ruhig selber darauf kommen“
„Wir können ja wetten“ schlage ich vor.
„Um was? Wer gewinnt bestimmt das nächste Kapitel?“ fragt er eifrig.
Schon bereute ich es, den Vorschlag überhaupt gemacht zu haben.
„Ich finde, du besinnst dich erst mal auf das eigentliche Thema dieses Kapitels und denkst weiter darüber nach, wie du dich entscheidest“ versuche ich abzulenken.
„Na das dürfte nach diesem Gespräch doch keine Frage mehr sein. Meine Führungsqualitäten habe ich hiermit wohl bewiesen, und es sagt viel aus, dass mein Chef das schon längst erkannt hat, du aber immer noch nicht. So allmählich bekomme ich sowieso das Gefühl, dass du insgeheim ein bisschen neidisch auf mich bist. Immerhin bekomme ich gerade die Möglichkeit, doch noch Karriere zu machen und habe eine Wahl. Du dagegen… Dümpelst seit Jahren dahin, gehst nur noch widerwillig ins Büro, hast längst innerlich gekündigt und machst dich über mich lustig, weil ich vielleicht doch noch etwas erreichen will im Leben?“
Ich schlucke mindestens dreimal bevor ich antworte. „Du meinst, du bist der, der ich nie sein konnte? Ganz gewiss nicht!“
„Da wäre ich mir an deiner Stelle aber nicht so sicher. Denk ruhig mal etwas länger darüber nach.“
Er sieht mich noch einmal durchdringend an, bevor er aufsteht und mit schnellen Schritten doch noch in den Biergarten geht.
In der Eiche über mir raschelt es kurz wie ferner Applaus.
Ast 3 – Nächtliche Begegnung
Es war wieder ein langer, heißer Tag gewesen, anstrengend vor allem zum Abend hin. Irgendwann ging aber auch der langweiligste Empfang zu Ende. Die Tische wurden abgeräumt, und spätestens als nicht nur die Gläser und Flaschen verschwunden waren, sondern sogar die Windlichter eingesammelt wurden, verstand es auch der Letzte und die Gäste tröpfelten auseinander, um zu Hause für sich weiter zu schwitzen.
Todmüde ging sie auf ihr Zimmer, geschafft von der Hitze, der Sonne, vor allem aber von dem Geplapper der letzten Stunden. Die Mundwinkel kamen ihr vor wie festgeklebt, als sie versuchte, das geschäftsmäßige Lächeln aus ihrem Gesicht zu wischen, was erst nach und nach gelang, so wie ein Pulli, an dem man zu viel herum gezupft hat erst allmählich wieder seine ursprüngliche Form wiederbekommt.
Mit dem Zähneputzen entfernte sie den schalen Geschmack aus ihrem Mund, eine Mischung aus abgestandenem Sekt und noch abgestandeneren Worten, die sie sich hatte sagen hören, weil man das eben so macht bei solchen Gelegenheiten, wohl wissend, dass sowieso keiner richtig zuhört geschweige denn an dem Gespräch oder ihr als Mensch wirklich interessiert ist.
Manchmal ertappte sie sich bei dem Wunsch, in einem solchen Moment mittendrin etwas völlig unpassend Absurdes zu sagen. Ob das überhaupt jemandem auffallen würde? Und wenn ja, würde man sie dann ansehen wie ein exotisches Tier?
Hinter den Augenlidern brannte die Müdigkeit, dennoch konnte sie nicht einschlafen. Nicht mal ihr derzeitiger Zufluchtstraum half, das Gedankenkarussell zu stoppen und endlich zur Ruhe zu kommen. Und so stand sie schließlich wieder auf, zog sich das Nötigste an und ging in den Park. Wenn schon Grübeln, dann wenigstens in schönerer Umgebung als in diesem Zimmer.
Als sie sich auf eine Bank unter einen Baum setzte, ging es ihr gleich ein Stückchen besser und sie atmete tief durch.
„Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht irgendwo mein Bein gesehen?“ Sie hatte das Zebra nicht kommen sehen, das jetzt plötzlich ein wenig schüchtern vor ihr stand. Und in der Tat fehlte ihm das linke Vorderbein, was man aber erst bei genauerem Hinsehen sah, denn es war sehr kunstvoll durch ein Holzbein ersetzt worden.
„Äh. Nein, tut mir leid. Wo haben Sie es denn verloren?“
„Das weiß ich leider nicht mehr so genau“ antwortete das Zebra und trippelte ein wenig unruhig auf der Stelle, als ob es bereit zur Flucht war, vor wem oder was auch immer. „Es ist schon so lange her, wissen Sie, und eigentlich habe ich mich ja auch gut daran gewöhnt. Nur dass die Leute einen immer so komisch anschauen, daran gewöhnt man sich nie. Aber ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, das Bein doch eines Tages wiederzufinden.“
„Das kann ich beides gut verstehen, also dass man sich nie an die Blicke gewöhnt und dass man die Hoffnung nicht aufgibt, irgendwann doch hmmm… vollständig zu sein, wenn Sie mir diese Bemerkung verzeihen.“ „Also… Natürlich ist man auch mit drei Beinen vollständig. “ beeilte sie sich hinzuzufügen, um das Zebra nicht noch trauriger zu machen, als es womöglich sowieso schon war.
„Das ist aber nett von Ihnen“ sagte das Zebra freundlich und schien ‚nett‘ auch wirklich so zu meinen und nicht stattdessen den kleinen Bruder von ‚Scheiße‘ „Vielleicht könnten Sie ja einfach ab und zu die Augen offenhalten, und falls Sie mein Bein zufällig finden… Könnten Sie mir dann einfach kurz Bescheid geben? Hier ist meine Emailadresse“. Es reichte ihr mit dem Holzbein eine Visitenkarte herüber.
„Das mache ich gerne“ antwortete sie und meinte das genauso ehrlich wie das ‚nett‘ des Zebras. Auf der Rückseite der Karte war das Bild einer Giraffe. „Meine Lieblingstiere“ sagte das Zebra verlegen, als es den Blick bemerkte und fügte sofort hinzu: „Jetzt muss ich aber weiter, hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen“
Und bevor sie „mich auch“ sagen konnte geschweige denn auch nur eine der Fragen stellen, die ihr während des kurzen Gesprächs in den Sinn gekommen waren, war das Zebra bereits mit schnellen, eleganten Schritten aus ihrer Hör- und Sichtweite verschwunden. Nur ein sehr genauer Beobachter hätte das leichte Hinken bemerkt.
Über ihr wehte ein leichter Luftzug durch die Zweige, und die Eiche knirschte ein wenig im Schlaf, als ob sie gerade intensiv geträumt hatte.
Finale – Auf dem Boden der Tatsachen
Wochen später.
Die Kunstsommerteilnehmer sind abgereist und haben alle mitgebrachten oder dort entstandenen Menschen, Tiere, Emotionen, Bilder und Geschichten wieder mitgenommen. Und sollte irgendjemand doch etwas vergessen haben, etwa eine Visitenkarte im Gras oder ein Ladekabel im Schrank, so wurde es mit Sicherheit genauso schnell entfernt wie die benutzten Teller bei den Mahlzeiten, sobald man das Besteck aus der Hand gelegt hatte.
Der Workshop „Führen im digitalen Zeitalter“ findet erst im November statt – natürlich ohne Detlef – obwohl: wirklich sicher sein kann man sich da nicht.
Das Zebra ist wieder glücklich zu Hause, mitsamt seiner Familie und allen anderen Gefährten.
Viele Geschichten wurden oder werden noch weitergeschrieben.
Unter der Eiche ist Ruhe eingekehrt.
Einige hundert Kilometer entfernt hört man an einem warmen Spätsommerabend das unangenehme Sirren eines Insekts. Vermutlich stammt das Geräusch von einer stinknormalen Rheinschnake, ganz eventuell hatte aber auch eine Klostermücke die Chance genutzt, sich an jenem Abschiedsmorgen mit ins Auto zu mogeln, um aus dem Ostallgäu ins schwüle Rheinmaingebiet zu fliehen. Ob das Blut kunstbeflissener Seminarteilnehmer anders schmeckt, als das der in der Einflugschneise eines Großflughafens lebenden Alltagsmenschen?
In jedem Fall: es sirrt. Hoch und nervend. Und trotz des kurzen Regens vorhin ist es auch ohne dieses Geräusch immer noch viel zu warm zum Denken oder Schreiben. Seufzend lasse ich Finger und Blick sinken.
„Ok, meine Konzentration ist eh dahin, also: was willst du?“
„Och, nichts Bestimmtes, nur mal kurz auf den Bildschirm schauen. Kannst du die Schrift vielleicht ein wenig größer zoomen?“
„Ich könnte es dir auch vorlesen, wenn es zum Selberlesen zu unbequem ist. Vielleicht einen Keks und ein Tässchen Blut dazu?“
„Wenn du mich so fragst – da sage ich nicht nein.“ summt sie erfreut und lässt sich auf dem Rand des Monitors nieder.
Ironie scheint sie schon mal nicht zu verstehen. Aber da ich den bereits vorhandenen Text sowieso noch einmal korrekturlesen möchte, kann ich das auch genauso gut laut tun. Als ich fertig bin, bleibt es auf den Logenplätzen des Monitors erst mal still. Ich werte das als positives Zeichen, aber weit gefehlt.
„Eine richtige Geschichte ist das aber nicht“ sirrt sie schließlich und fliegt wieder eine kleine Runde, vermutlich, um sich die Flügel zu verfliegen (vertreten ginge ja schlecht). „Da fehlt es an allem, was eine wirkliche Geschichte ausmacht – von ‚gut‘ ganz zu schweigen“.
Ich verkneife mir die Frage, warum sie glaubt, sich in dem Bereich auszukennen, denn schließlich bin ich zu dieser Erkenntnis auch schon selber gekommen, frage aber trotzdem nach, wie sie das denn meint.
„Naja, es gibt keinen Plot, keine handelnden Personen (nein, dieser Detlef zählt nicht), kein Teil hat wirklich mit den anderen zu tun, der Text lässt sich keinem Genre richtig zuordnen, es ist viel zu kurz, sogar für einen Kurzroman, und vor allem: es kommt kein Blut darin vor!“ Bei jedem Punkt der Aufzählung wippt sie einmal kurz mit den Flügeln.
„Letzteres ließe sich ja ändern, indem ich dich jetzt umbringe.“ Schon suche ich nach der Fliegenpatsche, die hier irgendwo herumliegen muss.
„Immer diese Totschlagargumente. Vergiss es. Dafür bin ich zu schnell – oder du zu langsam, und außerdem hast du die falsche Brille auf. Die Fliegenpatsche liegt übrigens in der zweiten Schublade von oben“
Sie nimmt mich nicht ernst.
„Das mag ja alles sein, aber trotzdem soll dieses Machwerk jetzt endlich fertig werden, damit ich es aus dem Kopf bekomme und mich wieder anderen Dingen zuwenden kann“
„Wenn es weiter nichts ist, dann mach doch einfach einen Punkt. Hier zum Beispiel.“
Sie setzt sich mitten auf den Monitor – ohne zu bemerken, dass ich die Patsche inzwischen aus der Schublade gefummelt und in Position gebracht habe. Immerhin: in einem Punkt hat sie sich geirrt: ich bin schneller als sie.