Fremde Federn

Man kann sich seine Aufgaben nicht immer aussuchen, manchmal suchen sich auch die Aufgaben den aus, der sie zu erledigen hat. Meine Aufgabe heißt Oli. Wie viele – nun ja – eher mittelgroße Menschen hat Oli von klein auf versucht, diesen empfundenen Makel mit seiner großen Klappe und seinem noch größeren EGO zu übertönen. Oli spricht viel und laut und hat zu allem eine Meinung. Zuhören ist dagegen keine seiner Kernkompetenzen, was mir meine Aufgabe nicht unbedingt erleichtert.

Die Geschichte, von der ich hier berichte, nimmt ihren Anfang in einer Spätsommernacht im Taunus. Oli ist mit seinem Schwager Volker unterwegs. Vollbepackt und vorsichtig pirschen sie sich an die Stelle heran, die ihnen der Förster verraten hat. Der Wald steht schwarz und schweiget. Volker und Oli gehen schweigend – Volker schweigt ohnehin meistens, Oli ausnahmsweise. Nur im Unterholz raschelt es ab und zu missbilligend, wenn sie trotz aller Behutsamkeit auf ein trockenes Ästchen treten oder einen Zweig streifen. Am Rande der Lichtung legen sie ihre Ausrüstung ab und richten sich auf eine längere Wartezeit ein. Sonnenaufgang ist erst in knapp einer Stunde. Aber vor der Sonne hat noch jemand anders seinen großen Auftritt: die Blaue Stunde. Und mit ihr hoffentlich ein paar Bewohner des Waldes, die unsere beiden Helden mit schussbereitem Gerät in Empfang nehmen wollen.

Schon nach zehn Minuten tun Oli die Knie weh und er dreht sich ächzend ein wenig herum, was ihm einen strafenden Blick von Volker und das gemeine Zwicken eines spitzen Steins im Bereich seiner unteren Lendenwirbelsäule einträgt. Kalt ist es außerdem. Und wer hatte eigentlich die hirnrissige Idee, mitten in der Nacht hierherzufahren? „Ich“ meldet sich ausnahmsweise kleinlaut Olis Angeber-EGO, das sonst gerne laut und prahlerisch „kein Problem“ ruft und dem jetzt anscheinend auch kalt ist.

Die Stunde färbt sich langsam blau, die vier anwesenden menschlichen Augen sehen das nicht, die App auf Olis Smartphone dagegen schon, oder bessergesagt: Sie kennt eine Datenbank, die eine Datenbank kennt, die es ihr verrät. Oli hört ein leises Klacken neben sich, Volker wird bereits aktiv, und so bringt sich auch Oli vorsichtig in Position. „Nicht so laut schnaufen!“, ermahne ich ihn gerade noch rechtzeitig. Oli atmet so flach wie möglich und schaut gespannt Richtung Osten, bereit für den ersten Schuss des Tages. Da passiert das Unvorhergesehene, das eigentlich Unmögliche und Unaussprechliche.

„Speicherkarte voll“ meldet das Kameradisplay. „Mist“ knurrt es hinter Olis Zähnen. Und hinter seinen Augen sieht er sein „Ich“ von vor einigen Stunden, wie es kurzfristig alles in den größeren Rucksack umpackt, damit auch das lange Teleobjektiv hineinpasst. Alles? Nein, eben nicht alles. Und das passiert ihm, ausgerechnet ihm, der „Speicherkarte leer – Akku voll, bloss nicht verwechseln“ als dröhnenden Leitsatz ständig jedem auf die Nase beziehungsweise aufs Ohr bindet, der es hören oder nicht hören will. Ich kichere schadenfroh in mich hinein.

Oli robbt sich ein wenig in Volkers Richtung und stupst ihn an. „Kannst du mir eine Speicherkarte leihen“. „Ja klar.“ Volker wühlt in seiner Jackentasche und reicht ihm eine herüber. Nett von ihm, dass er weder Fragen stellt, noch sich lustig macht.

Drei Stunden später lädt Oli in seinem Arbeitszimmer die Ausbeute des Morgens auf den PC. Nanu? Da waren ja schon Bilder auf der Karte gewesen? „Typisch Volker, dass er seine Karten nicht formatiert, bevor er sie wieder einsteckt“ denkt Oli. „Da kenne ich noch jemanden“ denke ich.

Volkers Dateien sind von ihrem letzten gemeinsamen Ausflug zur Mosburg, und da er normalerweise seine Bilder nicht zeigt, schaut Oli sie sich jetzt sehr gespannt an.
Volker ist in Olis Augen ein Spinner. Aber er ist gleichzeitig sein Schwager, und ihre Frauen und das geteilte Doppelhaus sorgen dafür, dass sie ständig aufeinandertreffen. Dass sie beide das gleiche Hobby haben, bringt zusätzliche Berührungspunkte, und irgendwie ist er ja meistens ein ganz netter Spinner, auch wenn er nie auf Olis Ratschläge hört. Sonst hätte er nämlich bei diesen Bildern ein Stativ benutzt. Oder sich mal ein anständiges Objektiv gekauft, anstatt immer mit diesen Uraltscherben zu fotografieren. Da kann ja nichts knackig scharf werden.

Seit ewigen Zeiten liegt er Volker in den Ohren, doch mal zum Fotoclub mitzukommen oder sich wenigstens bei Facebook anzumelden, aber Volker lächelt immer nur wie der Kater, wenn man versucht, ihn aus dem Bett zu vertreiben: weise und ein wenig indigniert.

Oli richtet eines der Bilder gerade und optimiert die Tonwerte. An der Schärfe lässt sich definitiv nichts mehr ändern. Und lädt es zusammen mit einigen seiner Fotos bei Facebook hoch, gespannt darauf, was die Fachleute dort dazu sagen werden.

Zwei Minuten später schreibt Jochen – er ist der erste Vorsitzende des Fotoclubs: „Super Bild, das sind ja ganz neue Seiten an dir, weiter so!“ Das kann er doch nur ironisch meinen. Am Abend zweifelt er langsam an seinen Augen oder seinem fotografischen Verstand: Volkers Bild bekommt mehr Likes und Kommentare als je eines seiner eigenen Fotos. Ja spinnen die denn alle? „Mit welchem Objektiv er das Bild wohl gemacht hat“, überlegt er, „wahrscheinlich das 85er“. Oli hat ein paar Meter neben ihm gestanden und mit seinem 100er einen ähnlichen Ausschnitt fotografiert. Mit Stativ. Knackscharf. Und überhaupt ganz anders.

Am Tag darauf gibt er Volker die Speicherkarte zurück. Er hat sie nach einem winzigen Zögern – da habe ich kurz gehüstelt – vorher formatiert. „Kannst du mir übrigens mal dein 85er leihen, ich würde da gerne was ausprobieren“ Volker guckt ein wenig überrascht, weil Oli doch sonst immer nur über seine Objektive spottet, sagt aber bereitwillig: „Klar, gerne.“

Noch einen Tag später steht Oli mit seiner Kamera, Volkers Objektiv, ohne Stativ und ohne Volker an der Mosburg und versucht das Bild zu reproduzieren. Um es kurz zu machen, es gelingt ihm nicht. Der Ausschnitt stimmt annähernd, der Rest nicht. „Liegt bestimmt am Licht. Oder daran, dass ich eine andere Kamera habe. Oder daran, dass ich beim Fotografieren nicht so dämlich grinse wie Volker manchmal“ vermutet er und löscht seine Versuche frustriert.

„Oli, willst du nicht dein Bild von der Mosburg zu unserem Monatswettbewerb einreichen? Passt doch zum Thema wie die Faust aufs Auge“ Jochen sitzt beim Fotoclubtreffen diesmal neben Oli, worüber er sich freut, aber dass er ihn ausgerechnet auf dieses Bild anspricht, gefällt ihm nicht so. „Klar, warum nicht“ murmelt er ein wenig ausweichend. „Ja, warum eigentlich nicht?“, überlegen er und das EGO später zu Hause. „Bei Volker vergammelt es auf der Festplatte, wenn er es nicht eh schon gelöscht hat. Er hat es quasi im Vorbeigehen geknipst, während ich mir über dieses Bild bestimmt jetzt schon mehr Gedanken gemacht habe als er. Und wer hat den Horizont gerade ausgerichtet und die Tonwerte korrigiert? Genau!“ Mein leises „Spinnst du? Warst du es nicht, der erst neulich im Fotoclub einen Vortrag über das Urheberrecht gehalten hat?“, überhört er.

„Denk an den Wettbewerb“ schreibt Jochen abends nochmal bei Facebook unter den Beitrag. Oli, der Ehrliche müsste spätestens jetzt das Bild dort und von seiner Festplatte löschen. Aber Oli, der Ehrliche hat vor langer Zeit aus seiner dummen Rechtschaffenheit gelernt. Glaubt er. Und hat sich daraufhin in Oli, den Schlauen verwandelt, der das Glück beim Zipfel packt, wenn es ihm winkt, immer in der Hoffnung, dass kein Kosake dranhängt.

„Gratuliere, Oli“ ruft Jochen Wochen später quer über die Straße, und natürlich stehen Volker und die Frauen ebenfalls im Garten und wollen sofort wissen, was es zu beglückwünschen gibt.

Olis EGO ist von frühester Jugend an gut gefüttert worden, ich dagegen bekam immer nur die Reste. Deshalb bin ich so klein und unscheinbar – aber dennoch oho und erfinderisch. Nachts zwischen drei und vier, wenn das EGO mit seinem ständigen „Du bist so ein toller Kerl, Oli. Erzähl doch weiter, das wollen bestimmt alle ganz genau wissen“ endlich mal Ruhe gibt, kommt meine große Stunde. Dann streichele ich Olis Seele ein wenig und bin ein sanftes Ruhekissen. Aber nur, wenn ich gut drauf bin. Bin ich dagegen schlecht drauf, trete ich im Brustkorb in der Magengegend gegen eine bestimmte Stelle. Und wenn ich sehr schlecht drauf bin, so wie jetzt, wage ich das sogar tagsüber. Das EGO ist damit beschäftigt, Jochens Glückwunsch ins Regal mit der Beschriftung „Olis schönste Erlebnisse“ zu stellen, und merkt das nicht.

Oli wird es ein wenig komisch im Magen. „Das ist bestimmt das zu schnell heruntergeschlungene Mittagessen“, vermutet er. „Ach, ich habe beim Monatswettbewerb den ersten Preis gemacht“, sagt er ungewohnt bescheiden. Dass er ausgerechnet diesmal gewonnen hat, versteht er nicht. Seine bisherigen eingereichten Bilder waren in seinen Augen alle zehnmal besser und haben es doch immer nur unter „ferner liefen“ oder bessergesagt unter „ferner fotografierten“ geschafft.

„Zeig doch mal“, „warum hast du denn davon gar nichts erzählt“ rufen die Frauen durcheinander, nur Volker schweigt, wie meistens. „Später. Jetzt lasst uns erstmal Kaffeetrinken“ lenkt Oli ab und hofft, dass der Tee, den er sich kocht, gegen dieses komische Magendrücken hilft.

Später haben sie es zum Glück wieder vergessen. Nur seine Frau erinnert sich abends im Bett an seinen ersten Preis. „Morgen“ sagt Oli und dreht sich auf die Seite, damit der Magen endlich Ruhe gibt.

Ausgerechnet in diesem Jahr organisiert der Fotoclub eine Ausstellung im Bürgerhaus, und ausgerechnet in diesem Jahr werden alle Monatsthemengewinnerbilder des vergangenen Jahres ausgestellt, erfährt er beim nächsten Clubtreffen. Aus der Nummer kommt er nicht raus, es sei denn, ein Virus zerstört bis zum Abgabetermin seine sämtlichen Festplatten inklusive des Backups in der Cloud oder ein Hochwasser spült das ganze Doppelhaus und ihn am besten gleich mit fort. Während er weitere Horrorszenarien andenkt, in denen unter anderem im Darknet angeheuerte Hacker und ein Brand im Bürgerhaus vorkommen, wird ihm irgendwann klar, dass er ja nur verhindern muss, dass Volker zur Ausstellung kommt.
„Das vereinfacht die Sache natürlich erheblich, jetzt sollte ich nur noch überlegen, wie ich ihm ein starkes Abführmittel ins Essen mische oder die Beine breche, damit er an dem Tag im Krankenhaus liegt.“ Er schüttelt den Kopf über sich selbst, das EGO ist mal wieder keine große Hilfe und auf mich hört ja niemand.

„Wollen wir nicht nochmal eine Woche zusammen ins Ferienhaus nach Bayern fahren?“, schlägt er am darauffolgenden Tag vor. „Im November?“ „Volker hat gar keinen unverplanten Resturlaub mehr“ „Wir sind doch eh schon im Dezember zusammen im Urlaub“ Seine Idee ist zerschmettert, bevor er sie weiter vorbringen kann. Und der November und damit die Vernissage rücken unerbittlich näher.

Das Foto sieht gedruckt und in groß an der Wand immer noch unscharf und wie im Vorbeigehen geknipst aus, aber der Fotoclub ist hellauf begeistert, als sie am Tag vor der Vernissage die Bilder aufhängen. Es bekommt sogar einen Ehrenplatz, direkt gegenüber vom Eingang. „Ganz toll“ sagt das EGO und „na toll“ sage ich.

Am Abend kommt Volker zu Oli herüber. Die Frauen sind im Kino, sie sind alleine. Das erste Mal seit langer Zeit, stellt Oli fest. Fotografieren waren sie schon viele Wochen nicht mehr gemeinsam, der Terminkalender war zu voll. „Ausreden, alles Ausreden“ sage ich leise. Und als das EGO mich nicht sofort niederbrüllt, fahre ich fort „das wäre jetzt die Gelegenheit. Erzähle ihm alles, er wird es verstehen“. „Quatsch!“ Das EGO ist doch nicht eingeschlafen. „Dazu ist es zu spät. Und überhaupt: Wetten, er erkennt sein eigenes Bild nicht, wenn er davorsteht?“ Ich will nicht wetten.

Volker sieht uns forschend an. „Ist alles ok bei dir“, fragt er vorsichtig. Ich räuspere mich leise. Aber Oli sagt „Doch, alles ok. Ich hab nur in letzter Zeit häufiger so ein komisches Magendrücken, zu viel Stress vermutlich, sonst ist alles bestens.“ „Das solltest du aber unbedingt mal abchecken lassen, wenn es nicht besser wird“ mahnt Volker. Oli nickt, und dann ist der Moment vorbei und Volker trottet wieder nach Hause.

Am Tag der Vernissage überlegt Oli kurz krank zu spielen. Bei dem Druck im Magen wäre das nicht einmal gelogen. Aber seine Frau würde ihm entweder nicht glauben oder ihn zum ärztlichen Notdienst schleifen. Beide Varianten gefallen ihm noch weniger, als zur Vernissage zu gehen.

Durchs Fenster sieht er Volker aus seiner Tür kommen. „Jetzt“ brülle ich, „das ist deine letzte Chance“ und er rennt tatsächlich raus. „Volker, ich muss dir unbedingt was sagen, hast du eine Minute?“ „Jetzt nicht, tut mir leid, ich muss ganz dringend was erledigen. Geht ihr schon mal vor, wir treffen uns dann im Bürgerhaus.“ Und weg ist er. „Tja“ kommentieren das EGO und ich im Chor.

Die Vernissage ist ein voller Erfolg. Oli wird von vielen Leuten auf das Bild – nach dem zweiten Glas Sekt denkt er nur noch MEIN Bild – angesprochen. Er schüttelt Hände, beschreibt, wie er es fotografiert hat und was er damit ausdrücken will. Nach dem dritten Glas Sekt fällt ihm auch das nicht mehr schwer. Und er fragt sich (oder mich), wieso er sich (oder ich ihm) so viele Gedanken gemacht hat. Dann sieht er aus dem Augenwinkel Volker hereinkommen, und binnen Sekunden bricht seine kurzfristige Hochstimmung in sich zusammen wie ein dilettantisch aufgebautes Billigstativ, wenn man eine schwere Kamera daraufstellt. Die Wirkung des Sekts ist schlagartig verflogen „Diebstahl“ hört er es rufen. „Betrug“ ruft eine andere Stimme, ich bin es nicht. Oli kann seinem Gesprächspartner nur noch mühsam folgen, die Welt sieht ein wenig verschwommen aus, der Lärm der vielen Menschen dröhnt in seinen Ohren, und es ist kein Tarnumhang griffbereit, der ihn unsichtbar werden ließe. Oder besser noch: eine „Machmichrückgängig“ Uhr. Ich verkneife mir jedes „Hab ich dir doch gleich gesagt“ und das EGO hat sich in eine dunkle Ecke hinter den Blinddarm gekauert und ist so kleinlaut, wie ich es sehr lange nicht erlebt habe.

Volker schlendert herum, begrüßt ein paar Bekannte und schaut sich alles an. Hat er sein Bild schon gesehen? Oli schluckt trocken, ihm ist kalt und heiß zugleich, jedes Mauseloch wäre ihm jetzt recht. Aber da hat Volker ihn entdeckt und bahnt sich einen Weg durch das Getümmel. Jochen fängt ihn ab, die beiden sprechen kurz miteinander. „Geht es dir nicht gut, Oli“, fragt jemand, „du siehst so blass aus.“ Dann steht Volker auf einmal neben ihm, lächelt, stößt mit uns an und macht Smalltalk. Oli versteht kaum ein Wort, ein Teil von ihm wartet immer noch auf einen Schlag, der aber nicht kommt. Seine Augen können das nicht glauben und zucken ständig, das Herz rast, als würde es sich gerne ohne seinen Körper aus dem Staub machen und sein Magen verlangt dringend nach einer Toilette.

Dann ist es vorbei. Wie betäubt läuft er auf dem Rückweg neben den anderen her. „Du bist ja so still“ wundern sich die Frauen, und Volker schweigt wie meistens. Erst beim Abschied an der Haustür sagt er leise zu ihm „Es war übrigens nicht das 85er“.


Juli 2020