Alle Artikel in der Kategorie “Texte

Literarische Kalendertürchen 9/??

Es hatte nur kurz geklingelt, wahrscheinlich wieder der Bote von DHL. Als Sophie die Tür öffnete, lag dort ein Kätzchen mit einer Nikolausmütze und sah zu ihr herauf.

„Guten Tag“, sagte das Kätzchen mit der Nikolausmütze.

„Äh, guten Tag“, sagte Sophie. „Wir haben aber kein Kätzchen mit Nikolausmütze bestellt.“

Denn wirklich war der Weihnachtswunschzettel der Jungs zwar ellenlang gewesen, aber Tiere hatten nicht draufgestanden. Was daran liegen könnte, dass Sophie ihnen schon vor langer Zeit klargemacht hatte: Sie würde in dieser Wohnung kein Tier dulden, das größer als ein Marienkäfer war. Keinen Wellensittich (machen Lärm), keinen Hamster (sind nachtaktiv und ohnehin nichts für Kinder), kein Meerschweinchen (stinken), und erst recht keinen Hund (im 5. Stock? Und wer geht mit dem dann dreimal am Tag raus?). Von Kätzchen war nicht explizit die Rede gewesen, aber die Jungs standen zurzeit ohnehin mehr auf Dinosaurier oder Vampirfledermäuse.

„Ich bin eigentlich eine verzauberte Prinzessin, aber Sie können mich Mira nennen“, sagte das Kätzchen und spazierte an ihr vorbei in Richtung Küche.

„Moment mal“, sagte Sophie und ging hinterher, nicht ohne vorher kurz die Fußmatte zu untersuchen, aber da lag kein Zettel und auch sonst kein Hinweis, der Auskunft über die Herkunft und vor allem das Ziel des Kätzchens verraten könnte, denn dass es hier falsch war, war ja wohl klar.

Das Kätzchen sah sich in der Küche um, sprang auf die Anrichte, roch kurz an der Schale mit den Nüssen und Apfelsinen und drehte sich dann zu Sophie um. „Eine Kleinigkeit gegen den größten Hunger vor dem Abendessen wäre nett. Etwas Käse oder Fisch, notfalls auch Hähnchenbrust.“

„Wir sind Veganer“, sagte Sophie, und das Kätzchen rümpfte kurz die Nase, antwortete dann aber ohne seine persönlichen Gedanken zum Thema Veganismus zu offenbaren „Nun denn, die Geschäfte haben ja wohl noch bis 20 Uhr geöffnet.“

„Erlaube mal!“ Sophie war empört.

„Aber natürlich erlaube ich“, sagte das Kätzchen und schien huldvoll den Kopf zu neigen.

Die Jungs kamen in die Küche gelaufen, neugierig, mit wem sich ihre Mutter dort unterhielt.

„Ein Kätzchen, wie niedlich, danke Mama.“

„Zwei Zwergfutterautomaten, wie niedlich“, sagte das Kätzchen, ging aber vorsichtshalber ein paar Schritte zurück, als die Jungs es streicheln wollten. „Nur mit gewaschenen Pfoten und ganz vorsichtig, sonst zeige ich euch, dass ich stärker bin“.

„Wohnt es jetzt hier? Wie heißt es denn? Darf es bei uns im Zimmer schlafen?“

„Ich muss jetzt erstmal herausfinden, wie es hierherkommt und wem es gehört, aber es bleibt definitiv nicht hier“, sagte Sophie mit mehr Überzeugung in der Stimme als sie wirklich fühlte.

„Ich gehöre übrigens niemandem“, sagte das Kätzchen, „und ihr dürft mich Mira nennen, aber das sagte ich ja schon. Wenn Sie ohnehin einkaufen gehen, denken Sie doch auch an Katzenstreu und eine Toilette für mich. Und es gibt da so ganz bestimmte Leckerchen von Whiskotz, davon sollten Sie sich auch gleich einen Vorrat zulegen. Ansonsten bin ich beim Essen nicht besonders wählerisch, solange es aus kleinen Schälchen mit goldfarbener Folie kommt. Petersilie darauf muss aber nicht sein. Soll ich die Einkaufsliste ins Handy diktieren, damit nichts vergessen wird?“

Sophie war sprachlos, was selten genug vorkam. Die Jungs waren auch sprachlos, das Kätzchen redete ja auch für vier.

Es klingelte wieder an der Tür.

„Na, ist mein Geschenk angekommen? Ist das Essen schon fertig?“ Das war Toby, Sophies aktueller Freund, bisher noch mit Status „kein Schlüssel zur Wohnung“, daher das Klingeln. Und das mit dem „kein Schlüssel“ würde vermutlich auch so bleiben, das drückte zumindest Sophies Gesicht aus.

„Du hast uns das Kätzchen vor die Tür gelegt? Ohne mich zu fragen? Was sollte das denn?“

„Es sah so niedlich aus, passt perfekt zu dir. Eine Katze stinkt nicht, macht keinen Lärm, macht nichts kaputt, muss nicht Gassi gehen, und schläft die meiste Zeit …“

Das Kätzchen schubste elegant ein Glas (halbvoll) von der Anrichte, bevor es noch eleganter selbst hinuntersprang.

Sophie holte tief Luft.

„Im Übrigen bin ich kein Haustier, sondern eine verzauberte Prinzessin, aber auch das erwähnte ich ja schon“, sagte das Kätzchen, das gerade dabei war, die Küche zu verlassen. Vermutlich sah es ein Streitgewitter heraufziehen und war auf der Suche nach einem ruhigeren Schlafplätzchen. Mit dem Essen schien es ja noch zu dauern.

Sophie nahm Schlüssel und Handtasche „Ich gehe jetzt tatsächlich einkaufen, aber kein Katzenfutter. Wenn ich wiederkomme – sie zeigte mit dem Finger auf Toby -, ist das Kätzchen verschwunden. Und ihr (sie zeigte auf die Jungs) seid brav in euren Zimmern und macht Hausaufgaben oder was auch immer.“

Keiner antwortete. Sie hatte erwartet, dass Toby ihr hinterherlaufen würde, aber es war das Kätzchen, das sie an der Tür einholte.

„Ich sehe schon, ich bin hier unerwünscht“, sagte es, ohne eine Spur beleidigt zu wirken. „Nun ja, nicht jeder kann mit einer Persönlichkeit wie mir mithalten. Am Ende hat jeder die Gesellschaft, die er oder sie verdient, nicht wahr?“ Täuschte sich Sophie, oder sah es sich dabei zu Toby um? „Wenn Sie mir die Türen aufhalten, bin ich schneller verschwunden, als Sie ‚Mäusekacke‘ sagen können. Apropos, wussten Sie, dass in Ihrer Zwischendecke Mäuse wohnen?“ Wie unbeabsichtigt leckte es sich dabei über die Lippen. „Und es könnte sein, dass Ihr Freund – wenn ich ihn denn so nennen darf – gegen meinereins allergisch ist, er bekam eben schon verdächtige rote Pusteln.“

Sophie blieb stehen. „Wie genau heißen die Leckerlies?“

Literarische Kalendertürchen 8/??

Das unsichtbare Band

Sie ist zu früh. Mit Absicht, denn sie will im Café sitzen, mit dem Rücken zur Wand, um Chris zu entdecken, bevor sie selbst entdeckt wird.

Das Internet hat einiges an Informationen über die Jugendfreundin verraten: dass sie jetzt in der Nachbarstadt lebt, Kurse an der VHS gibt, zwei erwachsene Kinder hat. Aber das einzige Foto, das sie findet, ist unscharf und vermutlich auch schon etliche Jahre alt. Dennoch hat sie sie wiedererkannt, trotz des pixelig verzogenen Mundes, der aussieht, als ob der Fotograf sie zum Lächeln gezwungen hat. Bei den Augen ist die Botschaft jedenfalls nicht angekommen.

Das ist eindeutig der Mund, der sie damals stundenlang zu überreden versucht hatte, nicht dem Rat der Eltern zu folgen, was „Ordentliches“ zu lernen, sondern stattdessen ihrem Herzen. Aber was weiß schon ein zwanzigjähriges Herz. Ihres zumindest hatte keine Ahnung gehabt, wohin es sie locken sollte, bis Achim aufgetaucht war und sie ihm, ohne nachzudenken nach Berlin gefolgt war. Chris hatte sie gewarnt, sie hatte widersprochen, im Streit hatten sie sich getrennt und danach nie wiedergesehen. Bis heute.

Am Telefon hat ihre Stimme wie damals geklungen, ein wenig heiser, ein wenig atemlos, immer auf dem Sprung wie die ganze Chris.

„Kati?“, sagt jemand in ihre Gedanken hinein. Das ist ihre Stimme, aber die Frau, die vor ihr steht, ist eine Fremde. Aus den wilden roten Locken von damals ist ein praktischer, grauer Kurzhaarschnitt geworden, aus dem bunten Shirt eine beige Funktionsjacke. Im Gesicht entdeckt sie nur mit Mühe Reste der Chris von damals. Als ob sie ihr Erschrecken nicht bemerkt hätte, lässt sich Chris nach einer kurzen, unbeholfenen Umarmung auf den Platz gegenüber fallen. Die Karte greifen und sich nach der Bedienung umsehen, sind eins, und in dieser Ungeduld erkennt sie sie jetzt doch wieder.

Dann ist der Kaffee bestellt, für den Moment gibt es nichts mehr zu tun, als sich anzusehen.  Sie reden über das Wetter, den Stau, die Parkplatzprobleme, ihre aktuellen Jobs, dann bekommt Chris ihren Kaffee. Sie nimmt Zucker, rührt, probiert, nimmt mehr Zucker, rührt wieder. Katis Hände haben derweil die Serviette in ihrem Schoß zerpflückt. Was ist das nur für eine blöde Idee gewesen? Als ob sich die letzten Jahrzehnte – sie rechnet lieber nicht genauer nach – mit einem Kaffee überbrücken ließen.  Sie schweigen beide, in Chris‘ Augen erkennt sie blaugrünes Nichts. Früher mussten sie sich nur ansehen, um zu wissen, was die andere dachte. Früher gab es nie einen Mangel an Gesprächsthemen, heute reiht sich eine unangenehme Stille an die andere. 

Irgendwann hält Kati es nicht mehr aus, sie murmelt etwas von einem Termin, und man könne sich dann ja mal erneut verabreden, jetzt wo man sich wiedergefunden hätte. Chris nickt dazu, die eine Augenbraue zieht sich dabei leicht in die Höhe, und plötzlich sieht Kati wieder, was sie denkt, aber es gefällt ihr nicht.

Vor dem Café bleiben sie kurz stehen. Jetzt nur nicht weinen, denkt Kati noch, und dann weint sie doch. Sie spürt Chris Arme um sich, heult jetzt erst richtig los, bis die Wimperntusche sich in schwarz-grauen Wolken auf Chris‘ heller Jacke auflöst.

„Gibt’s hier eigentlich nur so Oma-Cafés, wie das eben, oder vielleicht auch eine richtige Kneipe?“, fragt Chris in die letzten Hickser ihres Weinens hinein. „Ja schon“, antwortet Kati, „aber ob sie dich da mit deiner Funktionsjacke reinlassen?“

Nach einer kurzen Pause gackert Chris los, ihr altes, lautes Chris-Lachen, bis Kati mitlachen muss.

Literarische Kalendertürchen 7/??

Es ist ein friedlicher Sommertag, und wir stehen wie üblich auf der Weide und grasen. Besser gesagt: die anderen grasen, ich stehe am Zaun und denke nach. Und kaue dabei gedankenverloren auf einer Butterblume herum, die ich noch im Maul habe. Eigentlich sieht es auf der anderen Seite des Zaunes viel netter und grüner aus als hier. Da drüben ist das Gras nicht so heruntergetrampelt, es liegen keine Schafsköddel herum, zumindest soweit ich das von hieraus sehen kann. Und einen blöden Hund, der einen immer hin- und herjagt, gibt es dort auch nicht. Oder jemanden wie Bella und Donna, die einen ständig in ihre stundenlangen Lästereien über die anderen Schafe ziehen wollen. Und ein Pony wie Polly, die mich erst neulich – versehentlich, wie sie behauptet hat, wer’s glaubt – in die Seite getreten hat, auch nicht.

Wäre es nicht nett, dort drüben ganz alleine zu grasen? Oh ja! Mein inneres Abenteuerschaf springt vor Freude bei dem Gedanken daran mit allen vier Hufen gleichzeitig in die Luft.  Aber wie komme ich da rüber. Langsam gehe ich am Zaun entlang, Richtung Bach. Da steht plötzlich wie aus dem Nichts Hund vor mir. Er ist ein Schäferhund, und ‚Hund‘ ist sein Name, was nicht gerade für die Fantasie seines Herrchens spricht, aber immerhin hat er einen Namen bekommen. Wenn wir uns nicht selber Namen geben würden, hätten wir gar keine, nicht mal „Schaf“.
„Na, wo wollen wir denn hin, so ganz alleine?“, fragt Hund in bester Blockwartmanier von oben herab. Im wahrsten Sinne des Wortes von oben herab, Hund ist erheblich größer als ich.

„Ach, mir nur ein wenig die Beine vertreten, nichts weiter“, sage ich mit dem treudoofsten Schäfchenaugenaufschlag, dessen ich fähig bin.

Zum Glück ist Hund zwar schnell und stark, aber alles andere als schlau. Er glaubt mir, guckt zwar noch ein wenig misstrauisch, läuft dann aber zur Herde zurück, wo ein paar Mädels sich gerade mal wieder um ein Büschel Gänseblümchen streiten.

Solange mich Hund noch im Blick hat, tue ich so, als ob ich weiter grase. Aber dann hat er mich anscheinend vergessen, und ich gehe vorsichtig ein paar Schritte weiter. Und noch ein paar Schritte weiter. Direkt am Zaun ist das Gras sehr hochgewachsen und verbirgt mich beinahe. Außerdem habe ich seit einiger Zeit den Verdacht, dass Hund nicht mehr so gut sieht und diesen Mangel durch Lautstärke und sinnloses Umherhetzen zu verbergen versucht, damit sein Herrchen das nicht mitbekommt.

Jetzt höre ich schon das Plätschern des Bachs, und genau, meine Erinnerung hat mich nicht getrogen, hier hat der Zaun eine Lücke. Man – ich muss nur irgendwie durch den Bach kommen, und der hat um diese Jahreszeit ganz schön viel Wasser. Eigentlich bin ich ja wasserscheu, vor allem wenn es aus donnernden Wolken von oben kommt, aber jetzt und hier ist meine Neugier stärker und ich wate vorsichtig hindurch, rutsche einmal beinahe aus mit meinen glatten Hufen, aber nur beinahe. Und dann habe ich es geschafft. Vor Freude blöke ich laut los, schaue mich im selben Moment erschrocken um, aber da kommt kein Hund herangeprescht, ich bin wohl weit genug weg. Jetzt nur noch den kleinen Hügel hinauf, und dann bin ich auf der Wiese meiner Träume.

Da drüben stehen sie, die blöden anderen Schafe, kleine weiße Punkte auf einer grünen Wiese, dazwischen ein dunkelbrauner Punkt, das ist Hund. Und ein rosafarbener, das ist Tilda, die ist neulich einem frischgestrichenen roten Zaun zu nahegekommen. Ist inzwischen aber zu einem modischen rosa verblasst.

Den ganzen Tag renne und springe ich, freue mich an meiner eigenen Wiese, habe das leckerste Gras für mich ganz alleine und muss mich nicht herumscheuchen lassen. Nur Butterblumen gibt es hier nicht. Und die mag ich am allerliebsten.

Es wird langsam Abend, drüben wird es hektisch, denn Hund beginnt die Herde zum Unterstand zu treiben. Hier treibt mich keiner. Vergnügt und stolz wage ich mich jetzt näher an den Zaun heran, vielleicht kann ich ja ein paar Butterblumen hindurch fressen, wenn ich den Hals nur lang genug mache.

Klappt leider nicht, der Hals ist zu kurz, also wieder rückwärts. Geht nicht. Es drückt an den Ohren, je mehr ich rucke, desto doller tut es weh, ich stecke fest. Mist. Schafsmist. Jetzt nur nicht blöken, Hund wird bestimmt nicht amüsiert sein, mich hier zu finden, mit 90 % meines Körpers auf der eindeutig falschen Seite des Zauns. Vorsichtig ruckele ich vor und zurück, aber was ich auch probiere, ich stecke fest. Jetzt wird es auch noch dunkel. Hat uns nicht Hund neulich erst eindrücklich vor Wölfen gewarnt und vor dem, was sie mit kleinen unschuldigen Schäfchen machen? Es hilft nichts, ich blöke doch. Erst leise, dann immer lauter und verzweifelter. Ich will zu den anderen, ich will Butterblumen, ich will sogar Hunds nerviges Herumgetreibe, nur nicht mehr alleine im Dunkeln im Zaun feststecken.

Da, war das nicht ein Wolfsheulen in der Ferne?

Literarische Kalendertürchen 6/??

„Als der Bus in die Straße eingebogen war, hatte sich das Licht der Laterne verändert.“ (aus „Der Schwimmer“ von Zsuzsa Bánk)

 

„Verändert sich das Licht der Laterne, sobald der Bus in die Straße einbiegt, ist es eine besondere Fahrt. Steigen Sie ein und lassen Sie sich überraschen.“ So stand es im Reiseführer.

Mehrere Abende hatte ich an der Haltestelle gewartet, nichts hatte sich verändert, ich hatte schon begonnen zu zweifeln, ob es sich nicht um eine Urban Legend handelte, die die Stadt in den Reiseführer hatte schreiben lassen, um sich interessanter zu machen, als sie war. Heute aber passierte es. Mir blieben nur wenige Sekunden zum Überlegen, die Türen öffneten sich einladend vor mir, niemand stieg aus, niemand außer mir stand an der Haltestelle. Der Fahrer sah mich an, als wollte er sagen „was ist denn nun“, und ich stieg ein. Kaum hatten sich die Türen hinter mir geschlossen, fuhr er los. Brauchte ich kein Ticket? An der nächsten Haltestelle würde ich den Fahrer fragen, jetzt sahen seine zusammengezogenen Augenbrauen und sein schmaler Mund nicht so aus, als ob ihr Besitzer gesprächsbereit wäre. Ich sah mich um. Außer mir saßen nur wenige Menschen im Bus, die sich in erstaunlicher Gleichmäßigkeit einzeln über die Sitzreihen verteilt hatten. Niemand sprach, niemand sah mich an. Alle schauten entweder auf ihr Smartphone oder aus dem Fenster. Schon hatten wir die Stadt hinter uns gelassen und brausten über eine Landstraße durchs dunkle Nirgendwo. Neben dem Bus hing ein blasser, beinahe voller Mond, dem es ab und zu gelang, die Wolken zur Seite zu schieben, um durch sie hindurchzuschauen und damit den Abend noch geheimnisvoller wirken zu lassen.

Hinter mir verkündete ein Pling, dass jemand an der nächsten Haltestelle aussteigen wollte. Dort vor uns tauchte sie auf: ein von einer Laterne beleuchtetes ordentliches Viereck im Nichts. Weit und breit hatte ich kein Haus, keine Siedlung gesehen. Warum sollte irgendjemand hier aussteigen wollen? Ich hatte noch nicht fertig darüber nachgedacht, da war der Bus ohne langsamer zu werden an der Haltestelle vorbeigefahren. Der Fahrgast brüllte von hinten irgendetwas. Der Fahrer reagierte nur mit einem Achselzucken und zeigte auf eine Anzeigetafel. Demnach schien dies einer der Schnellbusse zu sein, die nicht an jeder Haltestelle hielten. Der Mann kam nach vorne, der Luftzug seines Zorns streifte mich kurz im Vorbeirauschen, und ich war froh, nicht der Busfahrer zu sein. Sein aufgeregtes Rufen vermischte sich mit dem stoischen Gemurmel des Fahrers und dem gleichmäßigen Gebrumm des Busses. Die übrigen Fahrgäste schauten teilweise nicht einmal auf.

Nach dem Nichts der offenen Landstraße fuhren wir jetzt durch das Alles eines Waldes, sogar der Mond hatte es aufgegeben, den Scheinwerfern des Busses behilflich sein zu wollen. Außerhalb seiner Lichtkegel war nur noch Schwärze um uns herum.

„Sehen Sie die Haltestelle, da vorne?“ Jetzt war der Busfahrer gut zu verstehen. Der immer noch zornige Mann, alle übrigen Fahrgäste und ich sahen gehorsam aus dem Fenster, wo tatsächlich wieder ein Viereck mit Laterne aus der Dunkelheit vor uns auftauchte. Der Mann nickte, ich nickte in Gedanken mit.

„Da halte ich übrigens auch nicht.“

Ich meinte, ein leises Kichern hinter mir zu hören, vielleicht hörte ich es aber auch nur in meinem Kopf.

Der Mann setzte sich neben mich und sackte dabei zusammen wie ein Ballon, aus dem man die Luft herausgelassen hatte. Ich wagte es nicht, ihn anzusprechen, dabei hätte ich gerne gewusst, was er in dieser gottverlassenen Gegend zu suchen hatte.

Wir kamen allmählich vom Nirgendwo ins Irgendwo, erst vereinzelt, dann immer häufiger tauchten Häuser vor uns auf. Straßenlaternen übernahmen es, die Belanglosigkeit dieser Vorstadt zu beleuchten, hier wurde der Mond nicht mehr gebraucht. Geschäfte der üblichen Ketten wechselten sich mit Wohnhäusern ab, der Bus wurde langsamer.

„Endstation, alles aussteigen.“ Das „bitte“ schien weit hinter uns verloren gegangen zu sein, aber alle stiegen gehorsam aus. Der Mann neben mir mit einem letzten leisen Zorneszischen, alle übrigen wortlos. Und so stand auch ich auf der Straße, verwirrt, was an dieser Fahrt jetzt so besonders war – mal abgesehen von dem kleinen Disput.

Fast alle Geschäfte waren bereits geschlossen, nur in einem Ein-Euro-Laden brannte noch Licht. Ich ging hinein, unschlüssig zwar, aber was hätte ich sonst tun sollen? Auf einem Sondertisch standen Plastikeulen der kitschigsten Sorte. Ihre geballte, vermutlich in China produzierte Scheußlichkeit zog meine Blicke an. „Wunscheulen – heute nur EUR 9.99“ verkündete das Schild über ihnen. Das wäre vielleicht ein Reisemitbringsel für den besten Freund, eine Erinnerung an dieses Abenteuer. Ich würde ihm von dieser Busfahrt erzählen, gemeinsam würden wir über den Mann, der nicht aussteigen konnte, den Busfahrer und diesen Laden lachen.

Die Frau an der Kasse nahm meinen Geldschein in Empfang, gab mir wortlos die Eule, einen Cent, den Bon und einen gedruckten Zettel und war schon wieder in ihr Smartphone versunken, bevor ich den Laden verlassen hatte.

An der Haltestelle hatte ich Zeit, den Zettel in Ruhe zu lesen. Durch das Drehen des Eulenkopfes setzte man angeblich den Wunschmechanismus in Gang. Drei Wünsche waren im Kaufpreis enthalten, wobei unerfüllbare Wünsche, wohl solche wie „Weltfrieden“, „Klimawandel stoppen“ oder „ewige Jugend“ ausgeschlossen waren. Für weitere Wünsche musste ein Abo abgeschlossen werden, ein QR-Code wies den Weg zur entsprechenden Website. Amüsiert drehte ich den Kopf versuchsweise. Der Bus würde nun hoffentlich bald kommen, so spannend waren weder Eule noch diese Vorstadt, und mir wurde allmählich kalt. Die Eule schien mir zuzuzwinkern, als der Kopf wieder an der ursprünglichen Position einrastete, und im selben Moment bog der Bus um die Ecke. Es waren derselbe Bus und derselbe Fahrer, oder er guckte einfach genauso griesgrämig wie sein Kollege auf der Hinfahrt. Einige Leute saßen bereits darin, und flüchtig wunderte ich mich, wo sie herkamen, wenn dies die Endhaltestelle war, aber dann war ich froh, im Warmen zu sitzen und bald wieder im gemütlichen Hotel einen Schlummertrunk einnehmen zu können.

Natürlich war es Zufall gewesen, dass der Bus genau in diesem Moment gekommen war, das fehlte noch, dass ich jetzt anfing, an solchen Hokuspokus zu glauben, aber dennoch wollte irgendein Teufelchen in mir Gewissheit haben und es mit einem zweiten Wunsch versuchen. Mir fiel allerdings partout keiner ein. Doch! Wie wäre es, wenn der Bus diesmal an der verlassenen Haltestelle auf der Landstraße halten würde?

Meine Finger griffen zur Eule, kaum dass mir dieser Gedanke gekommen war, und wieder schien sie mir zuzuzwinkern. Wir hatten den Wald verlassen, am Horizont tauchte bereits die Haltestelle auf. Ich hielt unwillkürlich den Atem an, als wir näher und näherkamen. Niemand hatte gedrückt, niemand stand dort, und einen Moment lang schien es, als würde der Bus weiterfahren, aber dann bremste der Fahrer, der Bus kam zum Stehen, die vordere Tür öffnete sich. Der Fahrer sah mich auffordernd an.

„Sie wollen aussteigen?“

„Nein, will ich nicht“, entgegnete ich mit Bestimmtheit.

„Doch, sie wollten, dass ich halte, also steigen Sie hier jetzt auch aus.“

Ehe ich es mich versah, stand ich auf der Straße. Die Rücklichter des Busses brauchten etwas länger als das Brummen des Motors, bis sie in der Ferne verschwunden waren. Es begann zu regnen, das Dach der Haltestelle schützte mich zum Glück, aber es wurde minütlich kälter. Hätte ich doch wenigstens Handschuhe eingepackt. Als meine Hände die Eule mit meinen klammen Fingern zusammen in den Jackentaschen verstauen wollten, trafen sie dort auf etwas unerwartet Wolliges: Handschuhe.

Mit der Wärme der Hände kehrte die Klarheit des Denkens in meinen Kopf zurück. Ich würde mir einfach wünschen, dass ein weiterer Bus käme. Aber der Eulenkopf ließ sich nicht mehr drehen. „Wunschguthaben aufgebraucht, bitte registrieren und zahlungspflichtiges Abo abschließen“ stand auf dem Display. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass die Handschuhe anscheinend mein dritter Wunsch gewesen waren.

Muss ich noch erwähnen, dass mein Smartphone keinen Empfang hatte und der Akku bei 8 % war?

Der Regen wurde stärker.

Literarische Kalendertürchen 5/??

Die Superpower

 

Als die Superpower App vor ein paar Wochen rauskam und sofort durch sämtliche sozialen Medien gehypt wurde, hatte ich sie tapfer ignoriert. Was alle wollen, will ich nie. Millionen Fliegen können nicht irren und so, Sie kennen das. Außerdem glaube ich nicht an Superkräfte, ist doch eh alles fauler Zauber. Oder ein Film.

Aber dann kam mein Nachbar Daniel eines Abends zu mir über den Zaun geflogen. Nicht außen rum, nicht durchs Törchen, einfach darüber geflogen. Er drehte noch einige Kreise und Loopings über meinen Rosen, und landete danach elegant vor mir auf der Terrasse. Stolz wie Bolle. Es sei alles sehr einfach – nur eben nicht ganz billig. Der Preis, den er mir für die halbe Stunde nannte, ließ mein Angestelltenherz schmerzhaft zucken, das konnte ich mir definitiv nicht leisten. Daniel ist Schönheitschirurg und nebenbei Börsenspekulant, da ist das kein Problem.

Als Nächstes hatte meine Schwester Elli, ausgerechnet meine brave biedere Schwester aus dem Vorortreihenhaus, sich gewünscht für eine Stunde Spiderwoman zu sein. Kopfschüttelnd sah ich ihr zu, wie sie die Wände am Bürgerhaus hochkletterte, während ihre Yogafreundinnen von unten Beifall klatschten.

Ich ignorierte die App weiter, auch als Carola, meine Frau die Superkraft „Levitation“ ins Spiel brachte. Um die Spielsachen der Kinder bequem aus dem Weg zu schaffen, wie sie meinte.

„Dann nimm doch lieber ‚Hexen‘ als Superpower, den Besen dazu hast du ja schon.“ Mein Humor kam mal wieder nicht an, aber das Thema war erstmal vom Tisch.

Bis die Black Week ins Haus stand. „Nur heute – jede Superpower mit 50 % Rabatt“ stand in der Mail. Und so hatte ich mir die App doch heruntergeladen – erstmal nur zum Gucken und scrollte durch die Liste der zur Verfügung stehenden Superkräfte.

„Übermenschliche Kraft“ – nee

„Zeitreise“ – hmm lieber nicht, nachher bringe ich da noch was durcheinander

„Unterwasseratmung“ – wer braucht denn sowas? Bin doch kein Fisch!

„Telepathie“ – ach nee, was die Leute so denken, will ich gar nicht wissen

„Körpertausch“ – das ist es! Und gar nicht so teuer. Mit wem kann man denn da tauschen? Früher wollte ich wie Robert Redford sein, aber der ist inzwischen ziemlich alt, also lieber nicht. Von den sonstigen Prominenten im Angebot interessiert mich niemand, aber halt, man kann auch mit beliebigen Individuen den Körper tauschen, man muss denjenigen nur innerhalb von 60 Sekunden nach dem Bestellvorgang am Rücken berühren. Wie wäre es denn, wenn ich einmal mit Nachbar Daniel tauschte? Mich einmal wie ein bekannter Schönheitschirurg und Börsenguru fühlen? Das könnte interessant sein. Wir sind abends zum Joggen verabredet, da lässt sich das doch bestimmt arrangieren.

Wir sind unterwegs, die App ist vorbereitet, ich muss nur noch unauffällig „jetzt bestellen“ bestätigen.

Ich klicke und sehe im selben Moment, dass ich „ein Jahr“ anstatt „eine Stunde“ ausgewählt habe.  Oh nein, wo ist denn hier der „Abbrechen, um Himmelswillen abbrechen“ Button? Oder reicht es, wenn ich einfach niemanden am Rücken berühre? Hektisch wische ich auf dem Smartphone herum, komme dabei ins Stolpern und kann mich gerade noch an einem Baum abfangen.

Hier im Stadtpark ist es eigentlich recht friedlich. Nachdem ich gemerkt habe, dass Schreien nichts nützt, habe ich mich mit meiner Situation abgefunden. Nur die Hunde und die Tauben nerven, die übrigen Vögel und die Eichhörnchen sind ganz nett.

Aber vielleicht möchten Sie trotzdem vor Ablauf meines Jahres mit mir tauschen? Ich bin die dritte Linde rechts an dem Weg zum kleinen See.