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Literarische Kalendertürchen 13/??

Sie hätte wissen müssen, dass dies kein guter Tag werden würde. Schon am frühen Morgen, als sie die Kaffeedose leer vorfand und sie sich somit unkoffeiniert auf den Weg machen musste. Als ihr der Bus vor der Nase weggefahren war und sie zwanzig Minuten warten musste, oder kurz darauf als ihr im Bus einfiel, dass sie ihr Dongle zu Hause vergessen hatte und sie nochmal umkehren musste.

Spätestens aber, als sie die einsame Tasche im Bus gefunden und ohne zu überlegen mitgenommen hatte, hätte ihr klar sein müssen, dass dieser Tag nicht nur schlecht angefangen hatte, sondern auch schlecht aufhören würde. Niemand, nicht einmal ein Schussel wie sie, ließ so eine Tasche versehentlich zurück.

Ganz oben darin steckte ein Dongle, auf dem Startbildschirm direkt sichtbar der Fahrplan der Zeitreisebuslinie, mit der auch sie hierhergekommen war. Sie sah ein zweites Mal hin, das konnte doch nicht sein. Kam er etwa aus ihrer Zeit? Das war eigentlich technisch gar nicht möglich. Um Knoten im Raum-/Zeitkontinuum zu vermeiden, durfte sich immer nur eine Person der ohnehin sehr begrenzten Anzahl von Zeitreisebevollmächtigten gleichzeitig am selben Ort und zur selben Zeit aufhalten. Reisen mussten lange im Voraus beantragt werden. Die KI, die für die Prüfungen zuständig war, brauchte trotz größtmöglicher Rechenleistung mindestens vier Wochen bis zur Erteilung der Genehmigung, und auch dann gab es noch umfangreiche Sicherheitskontrollen an den Zeitreisebusstationen, um Doppelungen bei Ort und Zeit zu vermeiden. Das war ein Thema unter vielen des Kurses „Zeitreisen für Anfänger“ gewesen.

Sie musste die Tasche abgeben. Aber dann würde der Besitzer oder die Besitzerin bestraft werden. Drei Monate Daten abstauben im Archiv. Mindestens. Aber ohne dies Dongle käme die Person nie wieder zurück in ihre Heimatzeit, auch ohne Strafe. Ratlos sah sie sich um, aber es war niemand zu sehen, der als Eigentümer der Tasche infrage käme. Plötzlich klickte das Dongle leise, der Fahrplan verschwand, stattdessen öffnete sich eine andere App, die eine Sprachnachricht abspielte

„Hallo Melanie, triff mich heute um 18:00 am Hintereingang der Stadtkirche. Es ist wichtig. Du musst mir vertrauen.“ Die Stimme kam ihr vage bekannt vor. Unmittelbar danach sprach die KI-Stimme der App „Wenn Sie die Nachricht verstanden haben und einverstanden sind, sagen Sie ‚JA‘, wenn Sie die Nachricht noch einmal hören wollen, sagen Sie ‚NOCHMAL‘ und wenn Sie gar nichts sagen, zerstört sich diese Nachricht in 20 Sekunden von selbst.“

„Äh ja“, sagte Melanie verwirrt, aber ihre Neugier war geweckt.
„Ich habe Sie nicht verstanden, bitte wiederholen Sie Ihre Antwort“, schnarrte die App.

„JA“, brüllte Melanie, und einige der Passanten sahen sie an, als ob sie sich gerade mit einer alten Ledertasche verlobt hatte. Oder mit einem Geist, der in dieser Ledertasche wohnte, und das wäre vielleicht gar nicht mal so falsch gewesen. Woher kannte sie bloß diese Stimme? Im Kopf ging sie alle Bekannten von Heimatzeit und -ort durch, aber es klingelte nicht bei ihr. Dafür klingelte das Dongle in der Tasche erneut.

„Noch 15 Minuten bis zu Ihrem Termin“, sagte die Erinnerungsapp, und sie hätte sie gerne nach ihren Erinnerungen an die Stimme und den Eigentümer von Tasche und Dongle befragt, aber die App schwieg. Also machte sich Melanie eilig Richtung Stadtkirche auf.

„Noch fünf Minuten bis zu ihrem Termin“, sagte die Erinnerungsapp gerade, als sie dort ankam. Niemand da. Aber die Hintertür der Kirche war einen Spalt breit geöffnet, von drinnen schimmerte es einladend. Sollte sie hineingehen? Oder lieber warten. Bevor sie sich entscheiden konnte, legte sich von hinten eine Hand auf ihre Schulter.  Sie dreht sich um und wünschte sich im selben Moment, sie hätte die Tasche nie geöffnet.

„Zeitreiserevision, Erwin Lindemann“, stellte sich der Mann unnötigerweise vor, sie kannte ihn aus ihrer Ausbildungszeit, er war damals einer der Prüfer gewesen. „Sie haben leider unseren Test nicht bestanden. Anstatt die Tasche unverzüglich im Fundbüro für Zeitreisende abzugeben, sind Sie den Anweisungen eines Fremden gefolgt. Vermutlich haben Sie auch früher einfach auf irgendwelche Links geklickt, wenn Sie jemand in einer Mail darum gebeten hat? Ich muss Ihnen daher eine Verwarnung aussprechen, bei Wiederholung droht Entzug der Zeitreiselizenz.“ Er nahm ihr die Tasche aus der Hand. In ihrer eigenen Tasche plingte es leise, das war vermutlich die Bestätigung der Verwarnung in ihrer Personalakte.

Nein, das war kein guter Tag gewesen, und dass sie sich immer noch nicht erinnern konnte, wessen Stimme sie verlockt hatte, machte es nicht besser.

Literarische Kalendertürchen 12/??

Die Bedienung brachte den bestellten Tee.

„Auf der Suche nach dem Prinzen deiner Träume?“, stand auf der Vorderseite des Teebeuteletiketts. Nein, sie war nicht auf der Suche, schließlich wartete sie hier auf Torben-Matthias, mit dem sie seit 5 Jahren, 3 Monaten und 12 Tagen zusammen war. Trotzdem neugierig geworden, drehte sie das Etikett herum. „… Dann trink mich“ stand dort. Nun ja, sie hatte Durst, und schließlich hatte sie den Tee zum Zwecke des Trinkens bestellt. Obwohl vielleicht ein Schnaps besser gewesen wäre, um die zu erwartende Diskussion mit Torben-Matthias über die geplanten Weihnachtsfeiern bei ihrer und seiner Familie besser überstehen zu können. Aber jetzt stand der Tee nun mal da. Angelina trank. Nichts passierte, sie hatte es nicht anders erwartet. Vermutlich war das ohnehin nur ein mäßig lustiger Gag des Teebeuteletikettenherstellers gewesen.

Die Tasse war leer, Torben-Matthias war weder in Person aufgetaucht, noch hatte er auf ihre Nachrichten „Wo bleibst du denn?“ „Ich warte jetzt schon 27 min auf dich“ und „verdammt noch mal, wenigstens kurz Bescheid sagen könntest du doch“ reagiert. Angelina bestellte nach kurzem Zögern – Jetzt einen Schnaps? Oder wenigstens den Likör, den Torben-Matthias so verabscheute? –  noch einen Tee. Eigentlich nur, weil sie wissen wollte, ob auf allen Etiketten dasselbe stand.

„Neugierig geworden?“, stand diesmal auf der Vorderseite. „Dann trink schneller“ auf der Rückseite. Angelina trank schneller. Und guckte aufs Handy. Und schmollte. Und bestellte einen dritten Tee.

„Da will es aber jemand wissen“ Irrte sich Angelina oder zitterte die Schrift diesmal ganz leicht, als ob das Etikett kicherte? „Prinzen wollen erobert werden“ stand auf der Rückseite. Sie war jetzt wirklich sauer, und wusste nicht mal mehr, ob auf Torben-Matthias oder die Teebeuteletiketten, die sie anscheinend veräppelten. Oder verteebeutelten. Jetzt bestellte sie doch einen Schnaps. Und einen Likör. Und ging erstmal auf die Toilette. Die drei Tassen Tee zeigten jetzt immerhin doch eine Wirkung, wenn auch nicht die angekündigte.

Sie sah den Maulwurf auf dem Rand des Waschbeckens erst, als sie bereits auf der Schüssel saß.

„Guten Tag“, sagte er freundlich. Angelinas Blase zog sich vor Schreck zusammen und hielt alle Restflüssigkeit zurück. „Entschuldigung, da bin ich wohl versehentlich auf der Damentoilette gelandet“, fügte der Maulwurf hinzu. „Aber meine Augen … Und die Brille hilft auch nur beim Lesen.“

„Ähh …“, sagte Angelina, und blieb sicherheitshalber einfach sitzen, wo sie saß. Bei allen realistischen Fragen, die sie sich stellte: 1. wie war er hier hereingekommen, 2. wie auf den Rand des Waschbeckens und 3. seit wann trugen Maulwürfe Brillen? Und 4.: Wenn sie schon Brillen trugen, warum dann keine Gleitsichtbrille? – tauchte auch von irgendwoher die verrückte Idee in ihr auf: was, wenn das der versprochene Prinz war? Und sie ihn jetzt erobern, küssen oder an die Wand werfen musste – oder was auch immer man heutzutage mit verwunschenen Prinzen machte?

„’Äh‘, höre ich nicht zum ersten Mal, spricht eigentlich heutzutage kein Mensch mehr in ganzen Sätzen?“ Das klang ein klein wenig genervt. Angelina musste jetzt handeln, aber wie machte man das, wenn man mit heruntergelassener Hose auf dem Klo saß?

„Sie können ruhig aufstehen, wenn sie fertig sind, ich sehe ohnehin nur bis zu meiner Nasenspitze scharf, aber ich drehe mich auch gerne um“, sagte der Maulwurf, als ob er ihre Gedanken erraten hatte und drehte sich auch tatsächlich herum, sodass sie nur noch seinen glatten, schwarzen Pelz von hinten sah. Schnell erledigte sie, was zu erledigen war und drückte die Spültaste. Jetzt wäre Händewaschen dran, aber das Waschbecken war ja schon besetzt.

„Wenn Sie mich nicht nassspritzen, dürfen Sie gerne Ihre Hände hier waschen.“ Schon wieder hatte er ihre Gedanken erraten. Torben-Matthias musste sie immer auch die offensichtlichsten Dinge erklären.

„Danke, sehr liebenswürdig“, sagte sie und wusch sich vorsichtig die Hände, während sie den Maulwurf immer mal wieder von der Seite ansah. Die eckige Brille gab ihm ein intellektuelles Aussehen, dahinter blinkten schwarze Äuglein. Der elegante, dunkle Pelz passte sehr gut dazu. Die rosa Nase wippte fröhlich auf und ab, der Mund darunter schien zu lächeln, alles in allem eine nicht unsympathische Erscheinung. Nur die großen Hände mit den langen Krallen störten sie ein wenig, obwohl sie sauber und gepflegt wirkten. Ganz anders als bei Torben-Matthias. Auch er sah sie lange von oben bis unten an, obwohl sie nicht sicher war, was er überhaupt erkennen konnte.

„Möchten Sie, müssen Sie … soll ich Sie vielleicht zum Herrenklo begleiten?“, frage sie schließlich, als die Stille zwischen ihnen ungemütlich zu werden begann.

„Das würden Sie wirklich tun? Das ist aber ganz reizend. Wenn Sie mir ihre Hand hinhalten, könnte ich ihren Arm hinauf auf ihre Schulter … Ich hoffe, ich kratze Sie nicht zu sehr?“ Angelina verneinte, der weiche, warme Pelz kitzelte sie an ihrem Hals, die Krallen in ihrer Schulter wurden dahinter fast unfühlbar. Vorsichtig öffnete sie die Tür und ging die wenigen Schritte bis zum Herrenklo.

„Hier bist du. Ich suche dich schon seit Ewigkeiten.“ Das war Torben-Matthias. Er drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Da ist was auf deiner Schulter, warte …“ Ehe sie etwas sagen oder tun konnte, wischte er mit einer Handbewegung darüber. „Hui, das war aber eine große Motte, sei froh, dass es keine Spinne war.“

Angelina wollte sich umdrehen, rufen, den Maulwurf suchen, sich überzeugen, dass ihm nichts passiert war, aber Torben-Matthias zog sie einfach mit hinauf ins Lokal.

„Ich habe dir noch einen Tee bestellt, deine Tasse war leer“. Keine Entschuldigung für sein Zuspätkommen, keine Erklärung, keine Frage, ob sie überhaupt noch einen Tee wollte. Angelina meinte immer noch das weiche Maulwurfsfell an ihrem Hals zu fühlen, allein die Erinnerung daran tröstete sie auf merkwürdige Art und Weise.

Die Tür zur Treppe öffnete sich, und ein dunkelhaariger Mann mit eckiger Brille kam heraus. Er lächelte vage in ihre Richtung und setzte sich an einen Tisch in der hintersten Ecke des Cafés.

Die Kellnerin brachte ihren Tee und für Torben-Matthias einen Espresso.

„Hören Sie auf Ihr Gefühl“ stand auf der Vorderseite des Teebeuteletiketts. Auf der Rückseite war nur ein dunkler Fleck, der mit ganz viel Fantasie die Form eines Herzens – oder eines Maulwurfs haben konnte.

Literarische Kalendertürchen 11/??

 

Es regnete. Auch das noch. Erst der stressige Arbeitstag – ein sinnloses Meeting nach dem anderen -, dann die Chorprobe, bei der nichts geklappt hatte und sich ihre Stimme wie rostige Nägel angehört hatte – wie auch immer sich singende, rostige Nägel anhören.

Das Auto stand weit weg, und es sah nicht so aus, als ob der Regen bald nachlassen würde, eher im Gegenteil. Im Schirmständer stand ein einzelner schwarzer Schirm, den sie sich nach kurzer Überlegung griff. Beim Aufspannen merkte sie, dass er wohl aus gutem Grund stehengelassen worden war, der Stoff hing in Fetzen an verbogenen Drähten herunter. Vermutlich würde sie mit ihm sogar noch nasser werden als ohne ihn, dachte sie verdrießlich und stapfte los. Pfützen schienen sich ihr heimtückisch in den Weg zu legen, und der Wind drehte immer dann, wenn sie es gerade geschafft hatte, die besten Teile des Schirms so zu platzieren, dass wenigstens der Kopf teilweise trocken blieb. Na toll, ganz toll!

Die Bö traf sie unvermutet, hob sie mitsamt Schirm, Tasche, Noten und Wasserflasche in die Höhe und zog sie mit sich. Warum sie den Schirm fester packte, anstatt ihn einfach loszulassen, wusste sie nicht. Als sie die Straße ein paar Meter unter sich liegen sah, war es ohnehin zu spät.

Seltsamerweise hatte sie keine Angst. Die schien mitsamt der gesammelten schlechten Laune unten auf der Erde geblieben zu sein. Sie wunderte sich nur darüber, dass sie sich nicht wunderte, wie der morsche Schirm sie überhaupt tragen konnte. Hier oben war alles selbstverständlich, und trotz des Regens klar und hell. Schon war sie ohnehin über den Wolken, wo es keinen Regen gab. Sie spürte den Wind auf ihrer Haut, sah den Mond am Horizont aufgehen, der ihr zuzuzwinkern schien und hörte das leise Geplapper der Sterne, die sich über Unendlichkeiten hinweg über Alltägliches unterhielten. Sie atmete tief durch, die Mundwinkel hoben sich genauso wie der Schirm sie angehoben hatte, sie schloss für einen Moment die Augen. 

Der Wind setzte sie sanft auf dem Boden direkt vor ihrem Auto ab. Nur der kleine Hopser, den sie dabei machte, erinnerte sie daran, dass sie eben noch geflogen war. Fast zärtlich faltete sie den alten Schirm zusammen, stieg ein und fuhr los.

Und während sie laut „Über den Wolken“ sang, klang ihre Stimme auf einmal gar nicht mehr wie rostige Nägel.

Literarische Kalendertürchen 10/??

Die Glasschale fiel. Wie in Zeitlupe sah er sie näher an die Kante heran rutschen, noch näher, bis der Kipppunkt erreicht war und sie sich herabstürzte. Elegant – sogar das konnte er in der Kürze der Zeit noch feststellen – sich um sich selbst drehend wie ein Turmspringer, flirrend, reflektierend im Licht der Nachmittagssonne, um dann alles andere als elegant unten aufzuschlagen. Er meinte, das Klirren und Bersten zu hören, bevor er die Scherben sah, aber das war ja wohl physikalisch unmöglich. Egal wie: die Schale war kaputt. Um das zu erkennen, musste man weder Physiker noch sonst irgendein Fachmann sein.

Die Stille nach dem Zerbrechen war ohrenbetäubend, sogar die Wanduhr schien ihr Ticken eingestellt zu haben. Die Zeit hielt mit ihm zusammen die Luft an, bis das Rauschen in seinen Ohren einsetzte und ihn daran erinnerte, dass Atmen wohl das Geschehene nicht ungeschehen, ihm aber trotzdem guttun würde.

Sie war ein Familienerbstück aus der Familie seiner Frau gewesen. Kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten, in der Zeit, in der man sich die ersten Geheimnisse anvertraut, hatte sie ihm die Geschichte erzählt. An die Einzelheiten konnte er sich schon lange nicht mehr erinnern.

Zur Zeit ihres ersten gemeinsamen Umzugs war die Schale bereits so selbstverständlich Teil ihres Lebens geworden, dass man die Details ihrer Geschichte gar nicht mehr brauchte und sie ganz automatisch in jeder Wohnung ihren Ehrenplatz bekam. Manchmal hatte er seiner Frau zugesehen, wie sie sie fast zärtlich abstaubte. Seinen Hinweis, sie hätten doch jetzt einen Geschirrspüler und man könne doch … hatte sie mit einem Blick beantwortet, der jedes weitere Wort überflüssig gemacht hatte.

Mit Kehrblech und Handfeger machte er sich daran, die Einzelteile aufzukehren und sie sorgsam auf dem Küchentisch auszubreiten. Dann googelte er „Glas kleben“, aber die Anleitungen, die er fand, bezogen sich auf einzelne abgebrochene Teile oder wenige Einzelstücke, nicht auf dieses zillionenteilige Puzzle auf seinem Tisch. Dennoch wollte er noch nicht kapitulieren. „Aufgeben ist keine Option“, hatten sie sich immer wieder gegenseitig gesagt. Als sie so lange im Krankenhaus lag und noch viel länger brauchte, um wieder ins Leben zurückzufinden, als er diese Affäre hatte, als der Kater starb. Gründe fürs Aufgeben hatte es viele gegeben, aber zum Glück noch mehr Gründe fürs Nichtaufgeben.

Die Scherbe mit dem winzigen Aufkleber „Made in China“ entdeckte er erst, als er dann doch begann, übers Aufgeben nachzudenken und kurz bevor sie nach Hause kam.

Seltsam, wie das Hirn in manchen Situationen arbeitet, obwohl man doch eigentlich glaubt, dass es nur die vielen unterschiedlichen Empfindungen sind, die im Körper wie aufgeschreckte Hühner herumkrakeelen. Aber irgendwo saß da auch diesmal wieder jemand oder etwas in ihm und schrieb eine ordentliche Liste mit Möglichkeiten und den jeweiligen Vor- und Nachteilen, zog Schlussfolgerungen und unterbreitete ihm das Ergebnis, sodass er nur nicken und sitzenbleiben musste.

Sie hatte ihm dieses „stoische Aussitzen“, wie sie es nannte, oft vorgeworfen. Den Weg und die Kraft, den es bis dahin gebraucht hatte, konnte sie weder sehen noch verstehen. Sie musste immer irgendetwas tun, was die Dinge manchmal verschlimmerte, manchmal verbesserte. In den meisten Fällen aber war das Ergebnis am Ende das Gleiche wie sein „dann ist es eben so“. Nur war ihres halt mit sehr viel mehr sichtbarer Energie erreicht worden.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er verstand, dass ihre Tränen Lachtränen waren und sie erzählen konnte: „Sie ist mir damals in der kleinen Dachwohnung schon heruntergefallen, aber du hingst so an ihr, da habe ich eine ganz ähnliche besorgt und gehofft, dass es dir nicht auffallen würde. Ich fand das Ding ja schon immer scheußlich.“

Am Abend trug er die Mülltüte hinunter und war sich nicht sicher, ob er nicht mehr zum Container brachte als die Scherben einer billigen Imitation.

 

Literarische Kalendertürchen 9/??

Es hatte nur kurz geklingelt, wahrscheinlich wieder der Bote von DHL. Als Sophie die Tür öffnete, lag dort ein Kätzchen mit einer Nikolausmütze und sah zu ihr herauf.

„Guten Tag“, sagte das Kätzchen mit der Nikolausmütze.

„Äh, guten Tag“, sagte Sophie. „Wir haben aber kein Kätzchen mit Nikolausmütze bestellt.“

Denn wirklich war der Weihnachtswunschzettel der Jungs zwar ellenlang gewesen, aber Tiere hatten nicht draufgestanden. Was daran liegen könnte, dass Sophie ihnen schon vor langer Zeit klargemacht hatte: Sie würde in dieser Wohnung kein Tier dulden, das größer als ein Marienkäfer war. Keinen Wellensittich (machen Lärm), keinen Hamster (sind nachtaktiv und ohnehin nichts für Kinder), kein Meerschweinchen (stinken), und erst recht keinen Hund (im 5. Stock? Und wer geht mit dem dann dreimal am Tag raus?). Von Kätzchen war nicht explizit die Rede gewesen, aber die Jungs standen zurzeit ohnehin mehr auf Dinosaurier oder Vampirfledermäuse.

„Ich bin eigentlich eine verzauberte Prinzessin, aber Sie können mich Mira nennen“, sagte das Kätzchen und spazierte an ihr vorbei in Richtung Küche.

„Moment mal“, sagte Sophie und ging hinterher, nicht ohne vorher kurz die Fußmatte zu untersuchen, aber da lag kein Zettel und auch sonst kein Hinweis, der Auskunft über die Herkunft und vor allem das Ziel des Kätzchens verraten könnte, denn dass es hier falsch war, war ja wohl klar.

Das Kätzchen sah sich in der Küche um, sprang auf die Anrichte, roch kurz an der Schale mit den Nüssen und Apfelsinen und drehte sich dann zu Sophie um. „Eine Kleinigkeit gegen den größten Hunger vor dem Abendessen wäre nett. Etwas Käse oder Fisch, notfalls auch Hähnchenbrust.“

„Wir sind Veganer“, sagte Sophie, und das Kätzchen rümpfte kurz die Nase, antwortete dann aber ohne seine persönlichen Gedanken zum Thema Veganismus zu offenbaren „Nun denn, die Geschäfte haben ja wohl noch bis 20 Uhr geöffnet.“

„Erlaube mal!“ Sophie war empört.

„Aber natürlich erlaube ich“, sagte das Kätzchen und schien huldvoll den Kopf zu neigen.

Die Jungs kamen in die Küche gelaufen, neugierig, mit wem sich ihre Mutter dort unterhielt.

„Ein Kätzchen, wie niedlich, danke Mama.“

„Zwei Zwergfutterautomaten, wie niedlich“, sagte das Kätzchen, ging aber vorsichtshalber ein paar Schritte zurück, als die Jungs es streicheln wollten. „Nur mit gewaschenen Pfoten und ganz vorsichtig, sonst zeige ich euch, dass ich stärker bin“.

„Wohnt es jetzt hier? Wie heißt es denn? Darf es bei uns im Zimmer schlafen?“

„Ich muss jetzt erstmal herausfinden, wie es hierherkommt und wem es gehört, aber es bleibt definitiv nicht hier“, sagte Sophie mit mehr Überzeugung in der Stimme als sie wirklich fühlte.

„Ich gehöre übrigens niemandem“, sagte das Kätzchen, „und ihr dürft mich Mira nennen, aber das sagte ich ja schon. Wenn Sie ohnehin einkaufen gehen, denken Sie doch auch an Katzenstreu und eine Toilette für mich. Und es gibt da so ganz bestimmte Leckerchen von Whiskotz, davon sollten Sie sich auch gleich einen Vorrat zulegen. Ansonsten bin ich beim Essen nicht besonders wählerisch, solange es aus kleinen Schälchen mit goldfarbener Folie kommt. Petersilie darauf muss aber nicht sein. Soll ich die Einkaufsliste ins Handy diktieren, damit nichts vergessen wird?“

Sophie war sprachlos, was selten genug vorkam. Die Jungs waren auch sprachlos, das Kätzchen redete ja auch für vier.

Es klingelte wieder an der Tür.

„Na, ist mein Geschenk angekommen? Ist das Essen schon fertig?“ Das war Toby, Sophies aktueller Freund, bisher noch mit Status „kein Schlüssel zur Wohnung“, daher das Klingeln. Und das mit dem „kein Schlüssel“ würde vermutlich auch so bleiben, das drückte zumindest Sophies Gesicht aus.

„Du hast uns das Kätzchen vor die Tür gelegt? Ohne mich zu fragen? Was sollte das denn?“

„Es sah so niedlich aus, passt perfekt zu dir. Eine Katze stinkt nicht, macht keinen Lärm, macht nichts kaputt, muss nicht Gassi gehen, und schläft die meiste Zeit …“

Das Kätzchen schubste elegant ein Glas (halbvoll) von der Anrichte, bevor es noch eleganter selbst hinuntersprang.

Sophie holte tief Luft.

„Im Übrigen bin ich kein Haustier, sondern eine verzauberte Prinzessin, aber auch das erwähnte ich ja schon“, sagte das Kätzchen, das gerade dabei war, die Küche zu verlassen. Vermutlich sah es ein Streitgewitter heraufziehen und war auf der Suche nach einem ruhigeren Schlafplätzchen. Mit dem Essen schien es ja noch zu dauern.

Sophie nahm Schlüssel und Handtasche „Ich gehe jetzt tatsächlich einkaufen, aber kein Katzenfutter. Wenn ich wiederkomme – sie zeigte mit dem Finger auf Toby -, ist das Kätzchen verschwunden. Und ihr (sie zeigte auf die Jungs) seid brav in euren Zimmern und macht Hausaufgaben oder was auch immer.“

Keiner antwortete. Sie hatte erwartet, dass Toby ihr hinterherlaufen würde, aber es war das Kätzchen, das sie an der Tür einholte.

„Ich sehe schon, ich bin hier unerwünscht“, sagte es, ohne eine Spur beleidigt zu wirken. „Nun ja, nicht jeder kann mit einer Persönlichkeit wie mir mithalten. Am Ende hat jeder die Gesellschaft, die er oder sie verdient, nicht wahr?“ Täuschte sich Sophie, oder sah es sich dabei zu Toby um? „Wenn Sie mir die Türen aufhalten, bin ich schneller verschwunden, als Sie ‚Mäusekacke‘ sagen können. Apropos, wussten Sie, dass in Ihrer Zwischendecke Mäuse wohnen?“ Wie unbeabsichtigt leckte es sich dabei über die Lippen. „Und es könnte sein, dass Ihr Freund – wenn ich ihn denn so nennen darf – gegen meinereins allergisch ist, er bekam eben schon verdächtige rote Pusteln.“

Sophie blieb stehen. „Wie genau heißen die Leckerlies?“