Sie hätte wissen müssen, dass dies kein guter Tag werden würde. Schon am frühen Morgen, als sie die Kaffeedose leer vorfand und sie sich somit unkoffeiniert auf den Weg machen musste. Als ihr der Bus vor der Nase weggefahren war und sie zwanzig Minuten warten musste, oder kurz darauf als ihr im Bus einfiel, dass sie ihr Dongle zu Hause vergessen hatte und sie nochmal umkehren musste.
Spätestens aber, als sie die einsame Tasche im Bus gefunden und ohne zu überlegen mitgenommen hatte, hätte ihr klar sein müssen, dass dieser Tag nicht nur schlecht angefangen hatte, sondern auch schlecht aufhören würde. Niemand, nicht einmal ein Schussel wie sie, ließ so eine Tasche versehentlich zurück.
Ganz oben darin steckte ein Dongle, auf dem Startbildschirm direkt sichtbar der Fahrplan der Zeitreisebuslinie, mit der auch sie hierhergekommen war. Sie sah ein zweites Mal hin, das konnte doch nicht sein. Kam er etwa aus ihrer Zeit? Das war eigentlich technisch gar nicht möglich. Um Knoten im Raum-/Zeitkontinuum zu vermeiden, durfte sich immer nur eine Person der ohnehin sehr begrenzten Anzahl von Zeitreisebevollmächtigten gleichzeitig am selben Ort und zur selben Zeit aufhalten. Reisen mussten lange im Voraus beantragt werden. Die KI, die für die Prüfungen zuständig war, brauchte trotz größtmöglicher Rechenleistung mindestens vier Wochen bis zur Erteilung der Genehmigung, und auch dann gab es noch umfangreiche Sicherheitskontrollen an den Zeitreisebusstationen, um Doppelungen bei Ort und Zeit zu vermeiden. Das war ein Thema unter vielen des Kurses „Zeitreisen für Anfänger“ gewesen.
Sie musste die Tasche abgeben. Aber dann würde der Besitzer oder die Besitzerin bestraft werden. Drei Monate Daten abstauben im Archiv. Mindestens. Aber ohne dies Dongle käme die Person nie wieder zurück in ihre Heimatzeit, auch ohne Strafe. Ratlos sah sie sich um, aber es war niemand zu sehen, der als Eigentümer der Tasche infrage käme. Plötzlich klickte das Dongle leise, der Fahrplan verschwand, stattdessen öffnete sich eine andere App, die eine Sprachnachricht abspielte
„Hallo Melanie, triff mich heute um 18:00 am Hintereingang der Stadtkirche. Es ist wichtig. Du musst mir vertrauen.“ Die Stimme kam ihr vage bekannt vor. Unmittelbar danach sprach die KI-Stimme der App „Wenn Sie die Nachricht verstanden haben und einverstanden sind, sagen Sie ‚JA‘, wenn Sie die Nachricht noch einmal hören wollen, sagen Sie ‚NOCHMAL‘ und wenn Sie gar nichts sagen, zerstört sich diese Nachricht in 20 Sekunden von selbst.“
„Äh ja“, sagte Melanie verwirrt, aber ihre Neugier war geweckt.
„Ich habe Sie nicht verstanden, bitte wiederholen Sie Ihre Antwort“, schnarrte die App.
„JA“, brüllte Melanie, und einige der Passanten sahen sie an, als ob sie sich gerade mit einer alten Ledertasche verlobt hatte. Oder mit einem Geist, der in dieser Ledertasche wohnte, und das wäre vielleicht gar nicht mal so falsch gewesen. Woher kannte sie bloß diese Stimme? Im Kopf ging sie alle Bekannten von Heimatzeit und -ort durch, aber es klingelte nicht bei ihr. Dafür klingelte das Dongle in der Tasche erneut.
„Noch 15 Minuten bis zu Ihrem Termin“, sagte die Erinnerungsapp, und sie hätte sie gerne nach ihren Erinnerungen an die Stimme und den Eigentümer von Tasche und Dongle befragt, aber die App schwieg. Also machte sich Melanie eilig Richtung Stadtkirche auf.
„Noch fünf Minuten bis zu ihrem Termin“, sagte die Erinnerungsapp gerade, als sie dort ankam. Niemand da. Aber die Hintertür der Kirche war einen Spalt breit geöffnet, von drinnen schimmerte es einladend. Sollte sie hineingehen? Oder lieber warten. Bevor sie sich entscheiden konnte, legte sich von hinten eine Hand auf ihre Schulter. Sie dreht sich um und wünschte sich im selben Moment, sie hätte die Tasche nie geöffnet.
„Zeitreiserevision, Erwin Lindemann“, stellte sich der Mann unnötigerweise vor, sie kannte ihn aus ihrer Ausbildungszeit, er war damals einer der Prüfer gewesen. „Sie haben leider unseren Test nicht bestanden. Anstatt die Tasche unverzüglich im Fundbüro für Zeitreisende abzugeben, sind Sie den Anweisungen eines Fremden gefolgt. Vermutlich haben Sie auch früher einfach auf irgendwelche Links geklickt, wenn Sie jemand in einer Mail darum gebeten hat? Ich muss Ihnen daher eine Verwarnung aussprechen, bei Wiederholung droht Entzug der Zeitreiselizenz.“ Er nahm ihr die Tasche aus der Hand. In ihrer eigenen Tasche plingte es leise, das war vermutlich die Bestätigung der Verwarnung in ihrer Personalakte.
Nein, das war kein guter Tag gewesen, und dass sie sich immer noch nicht erinnern konnte, wessen Stimme sie verlockt hatte, machte es nicht besser.




