Alle Artikel in der Kategorie “Texte

Literarische Kalendertürchen 18/??

Sie hatte mich mit nach Hause genommen, einfach so. Ich war viel zu schwach, um mich zu wehren, fühlte nicht einmal mehr den Hunger oder die Kälte, aber dass es bei ihr in der Wohnung warm war, merkte ich doch. Und dass das, was sie auf einem Teller vor mich stellte, lecker war, sagte mir spätestens mein Magen.

„Nicht so schnell“, ermahnte sie mich. Sogar ihre Stimme war warm, wie eine kuschelige Decke auf einer Couch. Ich blieb trotzdem misstrauisch, aber ich blieb.

Sie ließ mich von einem Arzt untersuchen, der gar nicht wie ein Arzt aussah, sein Geruch verriet ihn, aber auch da war ich noch viel zu schwach, um mich dagegen zur Wehr zu setzen, und so schloss ich die Augen und ließ alles mit mir geschehen.

Die Tage vergingen, oder waren es Wochen. Ich kam langsam wieder zu Kräften, dank ihrer Fürsorge. So allmählich nahm ich auch meine Umgebung und vor allem sie wahr. Beobachtete sie, wenn sie langsam und gebeugt in der Wohnung hin- und herging, Dinge erledigte. Ich erkenne Schmerzen, wenn ich sie sehe, und sie hatte Schmerzen, ständig. Trotzdem war da immer ein warmes Leuchten in ihren Augen, wenn sie zu mir herüberblickte oder mit mir sprach, nie hörte ich sie jammern.

Wenn sie nicht zu Hause war, sah ich mir den Rest der Wohnung genauer an, untersuchte aus Gewohnheit alle Fluchtmöglichkeiten, dabei wollte ein Teil von mir gar nicht weg. Vielleicht im Frühling, aber jetzt im Winter war es sehr angenehm, hier im Warmen zu sein, sich um nichts kümmern zu müssen. Sie war auch nie aufdringlich oder neugierig, ließ mich einfach sein. Allein das rechnete ich ihr hoch an.  

Eines Abends, als bis auf den Fernseher alles still geworden war, schlich ich zu ihr hinüber und setzte mich neben sie auf die Couch. Eine ganze Weile sahen wir uns nur an, die Wellen des Ungesagten flossen zwischen uns hin und her. Bis sie irgendwann mit einer Hand ganz langsam näher kam. „Renn!“, rief etwas in mir, „gleich ist es zu spät“, aber ich blieb sitzen, spürte, dass ich innerlich zitterte, konnte aber nicht mehr unterscheiden, ob es Angst oder Sehnsucht war, oder eine Mischung aus beidem. Dann spürte ich ihre Hand auf meinem Rücken, ganz sanft und vorsichtig, als ob sie mir sagen wollte „es ist allein deine Entscheidung, meine Hand ist nur das Werkzeug deines Willens.“

Ich zögerte noch den Bruchteil einer Sekunde, aber die Tür war schon geöffnet und ich halb durchgegangen, zum Umkehren war es zu spät.  Als ihre Hand auf meinem Rücken anfing, ganz behutsam über das noch ein wenig struppige Fell zu streicheln, war es um mich geschehen. Ich drückte mich an sie, erst nur mit dem Kopf, dann mit dem ganzen Körper, und das laute Schnurren, das aus den Tiefen meines Körpers kam, erschreckte mich fast selbst. Eine Hand von ihr war nicht genug, ich wollte beide, ständig, für immer, am Kopf, am Rücken, am Kinn, hinter den Ohren – aber nicht am Bauch und nicht gegen den Strich! Es war unnötig, ihr das zu erklären. Und unnötig zu erwähnen, dass ich blieb, auch als der Frühling kam.

Literarische Kalendertürchen 17/??

Er hatte das Schild „Letzte Rentiertankstelle vor dem Niemandsland“ wohl übersehen, und jetzt hatten sie den Salat. Oder eben NICHT. Von Salat wären die Rentiere nicht begeistert gewesen, aber besser als nichts, „in der Not frisst das Rentier Salat“ war ein unter Weihnachtsmännern altbekanntes Sprichwort. Jetzt wurde es bereits dunkel und der Schlitten immer langsamer. Er hatte keine Ahnung, wo man in dieser unwirtlichen Gegend die Rentiere auftanken konnte, das Navi zeigte gar nichts mehr an. Aber erstmal landen. Bobby, das älteste Rentier schnaufte erbärmlich, und die anderen hatten auch schon lange aufgehört, mit Geweih oder Schwänzchen zu wackeln.

„Kurze Pause, Jungs“, sagte er, als er den Schlitten unfallfrei auf einem Schotterweg gelandet hatte. „Am besten, ihr schaut euch selbst mal nach etwas Fressbaren um“.

„Also Chef, so geht das aber nicht, wir brauchen Kraftfutter und nicht nur ein paar trockene Grashalme oder Tannenzweige“, beschwerte sich Bobby, „Hier ist ja nicht mal ein McDrive in der Nähe“.

„Die Geschenkesäcke waren zu schwer, mit einem zusätzlichen Sack Futter für euch hätten wir keine Starterlaubnis bekommen. Und McDonald ist eh ungesund“, sagte er.

Die Rentiere grummelten, und er meinte Wortfetzen herauszuhören, die nach „Gewerkschaft“ oder „Streik“ klangen, aber für eine echte Rebellion fehlte ihnen einfach die Kraft, und da sie alle lieber früher als später hier wieder wegkommen wollten, machten sich die Rentiere auf die Suche nach ein wenig Grünzeug, während er ebenfalls erschöpft seine Kundenliste mit den noch verbliebenen Geschenkpaketen im Schlitten abglich.

Ihre nächste Adresse musste laut Plan auf der anderen Seite des Berges vor ihnen liegen. War ja klar, dass er mal wieder die Kunden bekommen hatte, die am unbequemsten zu erreichen waren. Da würde er wohl auch mal ein ernstes Wort mit seinem Chef reden müssen. Zu viele Lieferstopps, zu schwere Geschenke und die ältesten Rentiere, das ging einfach nicht zusammen. Voller Frust trat er gegen die Kufen des Schlittens, der daraufhin bedenklich wackelte und knarzte. Jetzt musste er sich aber wirklich zusammenreißen, eine Schlittenpanne konnte er sich nicht auch noch erlauben, wer weiß, wann der ADWC ihn hier abschleppen konnte. Er seufzte.

„Wird alles gut, Chef, wir haben ein offenes Gewächshaus gefunden, wo es viel leckeres Grünzeug gibt. Wir sind jetzt wieder fit.“ Bobby stupste ihn tröstend mit der Schnauze an und rülpste laut. Seinem Maul entströmte dabei ein merkwürdiger Geruch, aber da die anderen Rentiere gerade kichernd zurückkamen, dachte er nicht weiter darüber nach, sondern machte sich ans Anschirren.

„Also los, lasst uns die letzten Termine hinter uns bringen. Nächstes Jahr besorge ich uns wenigstens einen besseren Schlitten“, sagte er und stieg ächzend wieder auf seinen Platz.

„Besorg vielleicht auch einfach ein wenig Schnee dazu, dann startet und landet es sich leichter“, sagte eines der jüngeren Rentiere, und die anderen prusteten in ihr Fell.

„Ich weiß jetzt wirklich nicht, was am Klimawandel so lustig ist“, sagte er und begann mit den Startchecks, „fertigmachen zum Abflug. Alle Lichter an, Bremsklötze von den Hufen entfernen.“

Jemand kickte ein paar Steinchen vom Schotterweg, alle Rentiere lachten. Das wurde hier ja immer alberner, aber es sollte ihm recht sein. Lieber mit gutgelaunten Rentieren fliegen als mit maulenden oder mit Streik drohenden. Während sie an Höhe gewannen, zeigte das Navi auch wieder etwas an, erleichtert lenkte er den Schlitten in die richtige Richtung. Der Berg kam schnell näher.

„Höher, Jungs!“, rief er, und mit großen Hallo stiegen sie jetzt viel zu schnell und viel zu steil. Gut, dass die Geschenke und er angeschnallt waren. „Jungs, etwas vorsichtiger bitte“. Aber die Rentiere hörten gar nicht mehr auf ihn, unter großem Gelächter und Gejuchze begannen sie jetzt sogar Kunst zu fliegen. Er fühlte sich wie in einer Achterbahn, keiner hörte auf ihn und seine Schreie. Jetzt machten sie sogar einen Looping. Für einen kurzen Moment war er in Versuchung, die Peitsche einzusetzen, aber die war ihm irgendwo und irgendwie abhandengekommen. Die Rentiere lachten immer lauter und redeten wild durcheinander. Was war nur mit ihnen passiert? Den Berg hatten sie zum Glück ohne Unfall geschafft, aber auch danach flogen sie immer weiter hinauf und hinab und wieder hinauf. Jetzt sangen die Rentiere sogar. „Über den Wolken“, wenn er das richtig verstand. Hatten sie heimlich was getrunken? Bobby drehte sich zu ihm um und rief „Wenn der Schnee nicht zu uns kommt, fliegen wir halt zum Schnee, juchhu!“ Er konnte sich nur noch festhalten und hoffen, dass er es schaffen würde, sich mit dem Fahrtwind zu übergeben, wenn es denn so weit kommen sollte.

„Kinder, mir wird schlecht“, rief jetzt Bobby. „Ja, mir ist auch ganz komisch“, „mir auch“, fielen nach und nach die anderen ein, und er nutzte die Chance, sie behutsam wieder nach unten zu lenken, wo man zum Glück jetzt auch schon die Lichter ihres nächsten Ziels sehen konnte.

Es war ein ziemlich jämmerlicher und jammernder Haufen, der schließlich auf der Zufahrt zum Haus des Kunden landete. Hoffentlich würden sie sich wenigstens benehmen, wenn der Kunde herauskam. Tat dieser zum Glück nicht, und so überbrachte er die Lieferungen drinnen mit einem heute etwas kläglichen „Hohoho“, während seine Entourage sich gemeinschaftlich lautstark im Garten übergab.

So allmählich kam ihm ein Verdacht, was sie gefressen haben konnten, aber er fragte lieber nicht nach.

Literarische Kalendertürchen 16/??

Es klingelte. Elfie öffnete die Tür – in ihrem kuscheligsten Hoodie, Jogginghose und mit Maulwurfspantoffeln an den Füßen. Davor standen gleich vier Weihnachtsmänner in voller Montur. Die vier und Elfie sahen sich einen langen Moment gegenseitig von oben bis unten an, bis die Stille ohrenbetäubend wurde und Elfie losgackerte.

„Ach du Schande, das habe ich ja ganz vergessen, und dann noch gleich vier von euch, die habe ich aber nicht bestellt.“

„Wir wissen auch nicht, wie das passieren konnte, in der Weihnachtsmannzentrale geht keiner ans Telefon, anscheinend haben wir alle den Auftrag für dieses Haus bekommen“, sagte der größte von den vieren, und er und die übrigen zückten ihre Handys, um zu beweisen, dass sie sich weder in Datum (schwer möglich) noch Ort getäuscht hatten.

Elfie seufzte. „Dann kommen Sie doch erstmal herein, und wir klären das im Warmen. Stiefel ausziehen, bitte!“

Vier unterschiedlich bestrumpfte Weihnachtsmänner folgten ihr ins Wohnzimmer, das gemütlich, aber keinesfalls weihnachtlich geschmückt oder beleuchtet war. Elfie servierte Tee (was auf den Teebeutelanhängern stand, konnte bei der schummrigen Beleuchtung keiner lesen) und Kekse und begann zu erzählen.

Eigentlich hatte ihre Schwester mit den beiden Kindern über Weihnachten zu Besuch kommen wollen, weshalb Elfie schon seit Wochen geplant, besorgt, geputzt und vorbereitet hatte. Ein paar Tage vorher hatte sie die Schwester noch einmal angerufen, um die aktuellen Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Lieblingsessen der Gäste abzufragen. „Ach, haben wir dir gar nicht Bescheid gesagt?“, hatte die Schwester gefragt. „Wir fahren jetzt doch über Weihnachten nach Bayern zu Torstens Familie“ Nachdem Elfies erster Zorn verraucht war, hatte sie angefangen, sich auf ein gemütliches Weihnachten allein zu freuen. Ohne Kindergeschrei, Geschenkoverkill und Feiertagsfrust. Stattdessen mit Rotkraut und Knödeln, aber ohne Gans, „Kevin allein zu Haus“ und Marzipankartoffeln und Buch auf der Couch. Nur die Weihnachtsmannbestellung abzusagen hatte sie vergessen.

„Rotkraut“, sagte Weihnachtsmann 1 sehnsüchtig

„mit Knödeln“, sagte Weihnachtsmann 2 nicht weniger sehnsüchtig

„’Kevin allein zu Haus‘, den Film habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen“, sagte Weihnachtsmann 3 und Weihnachtsmann 4 schielte stumm in Richtung der Schale mit den Marzipankartoffeln.

„Sie haben doch bestimmt noch Termine heute?“, fragte Elfie und hoffte, dass das nicht zu ungastlich klang.

Aber alle vier versicherten ihr, dass dies hier ihr letzter Auftritt für dieses Jahr gewesen sein sollte. Elfie seufzte.

Eine halbe Stunde später waren Weihnachtsmann 1 und 2 in der Küche mit der Zubereitung von Rotkraut und Knödeln beschäftigt, während Weihnachtsmann 3 den auf der Terrasse stehenden Baum hereinholte und ihn „Oh Tannenbaum“ summend mit allem schmückte, was Elfie bereitgestellt hatte. Weihnachtsmann 4 deckte derweil den Tisch. Elfie musste nur gemütlich auf der Couch sitzen und allenfalls kurze Anweisungen geben, was sich wo befand.

„Oh, Scrabble!“, rief Weihnachtsmann 4 erfreut, als er die Servietten herausnahm und dahinter die Schachtel entdeckte. „Genau das Richtige für später“. Elfie seufzte.

„Als Erstes gucken wir ‚Kevin allein zu Haus‘“, bestimmte Weihnachtsmann 3.

„Aber vorher wird gegessen“, sagte Weihnachtsmann 1, der gerade mit der dampfenden Knödelschüssel hereinkam.

Zwei Stunden später waren Rotkraut und Knödel verspeist, der Film geguckt. Die vier Weihnachtsmänner hatten gemeinschaftlich den Tisch abgeräumt und den Abwasch erledigt, und alle fünf hatten sich prächtig dabei unterhalten. Elfie wusste jetzt mehr über das Weihnachtsmannbusiness, als sie je gewusst haben wollte, und bei allen Erzählungen der vier stellte sie immer wieder fest, dass es wesentlich Schlimmeres gab, als Weihnachten allein zu verbringen.

Elfie setzte sich wieder zu ihrem Buch auf die Couch, als die vier mit dem Scrabblespiel begannen und sich natürlich schon nach 10 Minuten über die Bedeutung eines von Weihnachtsmann 3 gelegten Wortes stritten. Die Geräuschkulisse im Hintergrund in Zusammenarbeit mit ihrem wohl gefüllten Magen sorgte dafür, dass sie immer müder wurde. Sie merkte gerade noch, dass einer der vier eine Wolldecke über sie legte, dann musste sie wohl eingenickt sein.

Als sie wieder wach wurde, war die Wohnung leer. Kurz dachte sie, sie hätte die vier Weihnachtsmänner nur geträumt. Aber da waren der geschmückte Baum und die ordentlich eingetupperten Reste von Rotkraut und Knödeln im Kühlschrank. Die Schale mit den Marzipankartoffeln war bis auf eine einsame Anstandskartoffel leer. Aber jemand hatte daneben eine große Tüte mit selbstgebackenen Plätzchen gestellt. „Frohe Weihnachten“ stand darauf und „danke für das schöne Fest“.

Literarische Kalendertürchen 15/??

Beim Einkaufen waren wir uns zufällig über den Weg gelaufen, ausgerechnet beim Aldi vor dem Käseregal. Ich hatte ihn sofort wiedererkannt, er war einer dieser glücklichen Menschen, an denen die Zeit weitestgehend spurlos vorübergeht. Ich lächelte nur vage in seine Richtung, konnte mir nicht vorstellen, dass er sich überhaupt an mich erinnerte, aber er begrüßte mich mit einem Strahlen, das Eiswürfel zum Hüpfen gebracht hätte.

„Melde dich bei mir, wir müssen unbedingt mal wieder etwas zusammen unternehmen“, sagte er zum Abschied und reichte mir eine Visitenkarte, die er mit einem sichtlich erprobten Schwung aus der Jackentasche gezogen hatte. Genauso schwungvoll steuerte er nun seinen Einkaufswagen Richtung Kasse, zurück blieb nur ein Hauch seines Aftershaves, das er genauso wenig gewechselt zu haben schien wie seinen Kleidungsstil oder sein Lächeln.

Wir hatten damals ein paar kurze Wochen zusammengearbeitet, die lange genug dauerten, dass er jeden meiner Tage zum Leuchten und mein Herz zum Stolpern brachte. Nachdem er fort war, stolperte das Herz noch eine ganze Weile weiter, und bis die Tage wieder heller wurden, dauerte es eine noch viel längere Weile. Wir hatten geheiratet, jeder jemand anders. Ich hatte seine Wege immer mal wieder im Internet verfolgt. Er hatte Karriere gemacht, war ins Ausland gegangen und erst vor einigen Jahren wieder in unseren Ort zurückgekehrt. Seine Frau war in der Zwischenzeit gestorben. Und jetzt kaufte er also bei Aldi ein und hatte mir seine Visitenkarte gegeben.

Ich speicherte seine Nummer im Telefon ab. Jetzt waren es nur noch wenige Wischer. Ich hörte in Gedanken seine Stimme, wie er mich zum Abendessen einlud. „Spaghetti Carbonara, die isst du doch so gerne“, könnte er sagen. Und ich könnte vorschlagen, einen guten Rotwein – nicht vom Aldi – mitzubringen, und wir würden uns bei vielen „weißt du noch’s“ näherkommen.

Ob ich vielleicht doch lieber eine E-Mail schreibe? Oder eine Textnachricht? Dann musste niemand von uns sofort reagieren und wir könnten uns peinliches Schweigen sparen.

Warum habe ich ihm nicht einfach meine Nummer gegeben, dann müsste er jetzt überlegen, ob und wie er mich kontaktiert. Oder auch nicht.

Erst einmal vereinbarte ich den langaufgeschobenen Zahnarzttermin. Und rief beim Steuerberater an. Danach war ich erschöpft. Meine Gedanken aber gingen ständig im „damals“ spazieren. Ich erinnerte mich an zufällige Berührungen in der Kaffeeküche oder am Kopierer, an Lächeln über Tische hinweg in der Kantine. Momente, die in meinem Album für besonders schöne Erinnerungen jeweils eine Einzelseite hatten.

Ich erinnerte mich aber auch an seine Art, sich über andere lustig zu machen. Und an das Projekt, für das ich die meiste Arbeit getan, er hingegen vor allem die Lorbeeren eingeheimst hatte.

Er war für einige Zeit der wichtigste Mensch in meinem Leben gewesen und hatte das vermutlich nicht einmal geahnt.

Das Telefon lag vor mir.

Literarische Kalendertürchen 14/??

„Fleischwolf Größe 8“ stand auf dem Karton, als sie das Geschenkpapier ungeduldig heruntergerissen hatte. Da stand noch viel mehr, aber das Einzige, was zählte: Es war ein Wolf! Das war ja noch viel besser als der Hund, den sie sich so sehnlichst gewünscht hatte!

Metallen glänzte er, fast wie Silber.  Am Kopf ein rundes Maul mit Löchern, hinter dem sie Zähne vermutete. Der Rumpf kompakt, fast massiv, am unteren Ende anstatt von Beinen eine große Schraube. Und auf der Gegenseite vom Kopf ein Schwanz, der sich kurbeln ließ, mit einem Ende aus hellem Holz. Auf den Bildern im Märchenbuch hatte der Wolf zwar ganz anders ausgesehen, aber das war jetzt egal.

Mit einem Jubelschrei nahm sie ihn in den Arm, während die Eltern ihr verblüfft zusahen. Alle übrigen Geschenke: das große L*go-Set, das rote Kleid samt Haube, der wunderschöne Korb, die Bücher, blieben unbeachtet, sie hatte nur noch Augen für ihn, den Wolf. Schon hatte sie ihm eine Leine aus Geschenkband umgelegt. „Nur bis er sich an mich gewöhnt hat, danach darf er frei sein“, erklärte sie den Eltern. Von der Schokolade, die sie ihm anbot, wollte Wolf nichts fressen. „Der hat bestimmt erst morgen Mittag Hunger, wenn es Fleisch gibt“, meinte der Vater und gab dabei sehr komische Geräusche von sich. Die Mutter stupste ihn mit einem bösen Blick in die Seite. Der Vater widmete sich daraufhin beleidigt dem L*go-Set seiner Tochter.

Eigentlich war das gar nicht ihr Geschenk gewesen, sondern das der Mutter an den Vater, aber sie hatte augenblicklich gewusst, dass er zu ihr gehörte, dass er das genau das war, was sie sich immer gewünscht hatte – wenn es denn kein Hund sein konnte, was sie ja irgendwie auch eingesehen hatte. Das Geschenk, von dem sie geträumt hatte, ohne es je wirklich gesehen zu haben, nicht mal im Traum. Das Geschenk, das ihr ein besserer Freund sein würde als alle Kinder in der Schule. Ein Freund, wie man ihn nur selten findet im Leben. Das Geschenk der Geschenke. Da hatte natürlich niemand ein Herz, ihr zu erklären, dass er ursprünglich gar nicht ihr hätte gehören sollen.

Erst spät am Abend bettete sie ihn in seiner Schachtel zum Schlafen, nachdem die Eltern sie überzeugt hatten, dass er sich im Bett bei ihr nicht wohlfühlen würde und außerdem der Teddy eifersüchtig werden würde. Was sie endgültig zur Einsicht brachte, war, dass auf der Schachtel ja schließlich sein Name stand und er demzufolge dort drinnen zu Hause war.  

„Das war mein schönstes Weihnachtsgeschenk“, sagte sie schon mit ganz schläfrigen Augen zur Mutter, als diese sie ins Bett brachte.

„Kriegst nächste Woche einen anderen“, tröstete die Mutter den Vater später.

„Dann achte aber darauf, dass es kein Weibchen ist, sonst haben wir hier bald ein ganzes Wolfsrudel“, sagte der Vater.