Das unsichtbare Band
Sie ist zu früh. Mit Absicht, denn sie will im Café sitzen, mit dem Rücken zur Wand, um Chris zu entdecken, bevor sie selbst entdeckt wird.
Das Internet hat einiges an Informationen über die Jugendfreundin verraten: dass sie jetzt in der Nachbarstadt lebt, Kurse an der VHS gibt, zwei erwachsene Kinder hat. Aber das einzige Foto, das sie findet, ist unscharf und vermutlich auch schon etliche Jahre alt. Dennoch hat sie sie wiedererkannt, trotz des pixelig verzogenen Mundes, der aussieht, als ob der Fotograf sie zum Lächeln gezwungen hat. Bei den Augen ist die Botschaft jedenfalls nicht angekommen.
Das ist eindeutig der Mund, der sie damals stundenlang zu überreden versucht hatte, nicht dem Rat der Eltern zu folgen, was „Ordentliches“ zu lernen, sondern stattdessen ihrem Herzen. Aber was weiß schon ein zwanzigjähriges Herz. Ihres zumindest hatte keine Ahnung gehabt, wohin es sie locken sollte, bis Achim aufgetaucht war und sie ihm, ohne nachzudenken nach Berlin gefolgt war. Chris hatte sie gewarnt, sie hatte widersprochen, im Streit hatten sie sich getrennt und danach nie wiedergesehen. Bis heute.
Am Telefon hat ihre Stimme wie damals geklungen, ein wenig heiser, ein wenig atemlos, immer auf dem Sprung wie die ganze Chris.
„Kati?“, sagt jemand in ihre Gedanken hinein. Das ist ihre Stimme, aber die Frau, die vor ihr steht, ist eine Fremde. Aus den wilden roten Locken von damals ist ein praktischer, grauer Kurzhaarschnitt geworden, aus dem bunten Shirt eine beige Funktionsjacke. Im Gesicht entdeckt sie nur mit Mühe Reste der Chris von damals. Als ob sie ihr Erschrecken nicht bemerkt hätte, lässt sich Chris nach einer kurzen, unbeholfenen Umarmung auf den Platz gegenüber fallen. Die Karte greifen und sich nach der Bedienung umsehen, sind eins, und in dieser Ungeduld erkennt sie sie jetzt doch wieder.
Dann ist der Kaffee bestellt, für den Moment gibt es nichts mehr zu tun, als sich anzusehen. Sie reden über das Wetter, den Stau, die Parkplatzprobleme, ihre aktuellen Jobs, dann bekommt Chris ihren Kaffee. Sie nimmt Zucker, rührt, probiert, nimmt mehr Zucker, rührt wieder. Katis Hände haben derweil die Serviette in ihrem Schoß zerpflückt. Was ist das nur für eine blöde Idee gewesen? Als ob sich die letzten Jahrzehnte – sie rechnet lieber nicht genauer nach – mit einem Kaffee überbrücken ließen. Sie schweigen beide, in Chris‘ Augen erkennt sie blaugrünes nichts. Früher mussten sie sich nur ansehen, um zu wissen, was die andere dachte. Früher gab es nie einen Mangel an Gesprächsthemen, heute reiht sich eine unangenehme Stille an die andere.
Irgendwann hält Kati es nicht mehr aus, sie murmelt etwas von einem Termin, und man könne sich dann ja mal erneut verabreden, jetzt wo man sich wiedergefunden hätte. Chris nickt dazu, die eine Augenbraue zieht sich dabei leicht in die Höhe, und plötzlich sieht Kati wieder, was sie denkt, aber es gefällt ihr nicht.
Vor dem Café bleiben sie kurz stehen. Jetzt nur nicht weinen, denkt Kati noch, und dann weint sie doch. Sie spürt Chris Arme um sich, heult jetzt erst richtig los, bis die Wimperntusche sich in schwarz-grauen Wolken auf Chris‘ heller Jacke auflöst.
„Gibt’s hier eigentlich nur so Oma-Cafés, wie das eben, oder vielleicht auch eine richtige Kneipe?“, fragt Chris in die letzten Hickser ihres Weinens hinein. „Ja schon“, antwortet Kati, „aber ob sie dich da mit deiner Funktionsjacke reinlassen?“
Nach einer kurzen Pause gackert Chris los, ihr altes, lautes Chris-Lachen, bis Kati mitlachen muss.