Literarische Kalendertürchen 7/??

Es ist ein friedlicher Sommertag, und wir stehen wie üblich auf der Weide und grasen. Besser gesagt: die anderen grasen, ich stehe am Zaun und denke nach. Und kaue dabei gedankenverloren auf einer Butterblume herum, die ich noch im Maul habe. Eigentlich sieht es auf der anderen Seite des Zaunes viel netter und grüner aus als hier. Da drüben ist das Gras nicht so heruntergetrampelt, es liegen keine Schafsköddel herum, zumindest soweit ich das von hieraus sehen kann. Und einen blöden Hund, der einen immer hin- und herjagt, gibt es dort auch nicht. Oder jemanden wie Bella und Donna, die einen ständig in ihre stundenlangen Lästereien über die anderen Schafe ziehen wollen. Und ein Pony wie Polly, die mich erst neulich – versehentlich, wie sie behauptet hat, wer’s glaubt – in die Seite getreten hat, auch nicht.

Wäre es nicht nett, dort drüben ganz alleine zu grasen? Oh ja! Mein inneres Abenteuerschaf springt vor Freude bei dem Gedanken daran mit allen vier Hufen gleichzeitig in die Luft.  Aber wie komme ich da rüber. Langsam gehe ich am Zaun entlang, Richtung Bach. Da steht plötzlich wie aus dem Nichts Hund vor mir. Er ist ein Schäferhund, und ‚Hund‘ ist sein Name, was nicht gerade für die Fantasie seines Herrchens spricht, aber immerhin hat er einen Namen bekommen. Wenn wir uns nicht selber Namen geben würden, hätten wir gar keine, nicht mal „Schaf“.
„Na, wo wollen wir denn hin, so ganz alleine?“, fragt Hund in bester Blockwartmanier von oben herab. Im wahrsten Sinne des Wortes von oben herab, Hund ist erheblich größer als ich.

„Ach, mir nur ein wenig die Beine vertreten, nichts weiter“, sage ich mit dem treudoofsten Schäfchenaugenaufschlag, dessen ich fähig bin.

Zum Glück ist Hund zwar schnell und stark, aber alles andere als schlau. Er glaubt mir, guckt zwar noch ein wenig misstrauisch, läuft dann aber zur Herde zurück, wo ein paar Mädels sich gerade mal wieder um ein Büschel Gänseblümchen streiten.

Solange mich Hund noch im Blick hat, tue ich so, als ob ich weiter grase. Aber dann hat er mich anscheinend vergessen, und ich gehe vorsichtig ein paar Schritte weiter. Und noch ein paar Schritte weiter. Direkt am Zaun ist das Gras sehr hochgewachsen und verbirgt mich beinahe. Außerdem habe ich seit einiger Zeit den Verdacht, dass Hund nicht mehr so gut sieht und diesen Mangel durch Lautstärke und sinnloses Umherhetzen zu verbergen versucht, damit sein Herrchen das nicht mitbekommt.

Jetzt höre ich schon das Plätschern des Bachs, und genau, meine Erinnerung hat mich nicht getrogen, hier hat der Zaun eine Lücke. Man – ich muss nur irgendwie durch den Bach kommen, und der hat um diese Jahreszeit ganz schön viel Wasser. Eigentlich bin ich ja wasserscheu, vor allem wenn es aus donnernden Wolken von oben kommt, aber jetzt und hier ist meine Neugier stärker und ich wate vorsichtig hindurch, rutsche einmal beinahe aus mit meinen glatten Hufen, aber nur beinahe. Und dann habe ich es geschafft. Vor Freude blöke ich laut los, schaue mich im selben Moment erschrocken um, aber da kommt kein Hund herangeprescht, ich bin wohl weit genug weg. Jetzt nur noch den kleinen Hügel hinauf, und dann bin ich auf der Wiese meiner Träume.

Da drüben stehen sie, die blöden anderen Schafe, kleine weiße Punkte auf einer grünen Wiese, dazwischen ein dunkelbrauner Punkt, das ist Hund. Und ein rosafarbener, das ist Tilda, die ist neulich einem frischgestrichenen roten Zaun zu nahegekommen. Ist inzwischen aber zu einem modischen rosa verblasst.

Den ganzen Tag renne und springe ich, freue mich an meiner eigenen Wiese, habe das leckerste Gras für mich ganz alleine und muss mich nicht herumscheuchen lassen. Nur Butterblumen gibt es hier nicht. Und die mag ich am allerliebsten.

Es wird langsam Abend, drüben wird es hektisch, denn Hund beginnt die Herde zum Unterstand zu treiben. Hier treibt mich keiner. Vergnügt und stolz wage ich mich jetzt näher an den Zaun heran, vielleicht kann ich ja ein paar Butterblumen hindurch fressen, wenn ich den Hals nur lang genug mache.

Klappt leider nicht, der Hals ist zu kurz, also wieder rückwärts. Geht nicht. Es drückt an den Ohren, je mehr ich rucke, desto doller tut es weh, ich stecke fest. Mist. Schafsmist. Jetzt nur nicht blöken, Hund wird bestimmt nicht amüsiert sein, mich hier zu finden, mit 90 % meines Körpers auf der eindeutig falschen Seite des Zauns. Vorsichtig ruckele ich vor und zurück, aber was ich auch probiere, ich stecke fest. Jetzt wird es auch noch dunkel. Hat uns nicht Hund neulich erst eindrücklich vor Wölfen gewarnt und vor dem, was sie mit kleinen unschuldigen Schäfchen machen? Es hilft nichts, ich blöke doch. Erst leise, dann immer lauter und verzweifelter. Ich will zu den anderen, ich will Butterblumen, ich will sogar Hunds nerviges Herumgetreibe, nur nicht mehr alleine im Dunkeln im Zaun feststecken.

Da, war das nicht ein Wolfsheulen in der Ferne?