Gefährliche Neugier
Falk war Briefträger aus Leidenschaft, ebenso leidenschaftlich las er die Postkarten seiner Kunden. Meistens stand nur langweiliges Zeug über das Wetter an anderen Orten drauf, gefolgt von belanglosen Grüßen und einem unleserlichen Krakel. Aber was war das?
„Mittwoch, 23 Uhr, gleiche Stelle, gleiche Welle. Vergiss es nicht! Und bring einen Spaten mit.“ stand auf der Karte. Die Adresse des Empfängers kannte er: Jobst Winter, Erlenweg 10. Der bekam normalerweise viele Mahnungen und sogar Mahnbescheide. Als langjähriger Zusteller erkannte er den Inhalt negativer Briefe schon am Knistern des Umschlags. Den Inhalt bedrohlicher Karten konnte man anscheinend nicht so einfach erkennen, denn vorne auf dieser Karte war das Bild eines Tannenbaums mit einem lachenden Gesicht, der Inbegriff der Harmlosigkeit, ein krasser Gegensatz zum Text.
Seine Hand zitterte leicht, als er die Karte in den Briefkasten von Jobst Winter plumpsen ließ. In seinem Hirn setzte sich aus den wenigen Worten derweil eine ganze Geschichte zusammen, nicht umsonst las er in seiner Freizeit fast nur Krimis. Da verabredeten sich anscheinend zwei zu einer kriminellen Tat. 23 Uhr im Winter, das konnte nichts Gutes bedeuten, das war ja klar. Und was war das mit dem Spaten? Sollte sich Jobst Winter damit sein eigenes Grab schaufeln, bevor er ermordet und hineingelegt wurde, weil er seine Schulden bei einem Kredithai der Unterwelt nicht bezahlt hatte? Ganz kurz war er versucht, bei Jobst Winter zu klingeln und ihn zu fragen, ob er ihm helfen könne. Nicht nur aus reiner Nächstenliebe, das musste er ehrlich zugeben, aber er hätte halt zu gerne gewusst, was der Hintergrund dieser Karte war.
Den ganzen Dienstagabend dachte er darüber nach. In der Nacht träumte er sogar von einem finsteren Waldstück und zwei Männern, die dort eine Grube aushoben. Aber im Traum war er es, den sie bei lebendigem Leib gefesselt hineinwarfen. Das Letzte, was er sah, war schwarze Erde, die auf ihn niederprasselte, während er nach Luft rang. Schweißgebadet wachte er auf.
Mittwoch war keine Post für Jobst Winter dabei. Er wusste nicht, ob ihn das erleichterte oder noch mehr beunruhigte. Vor lauter Nachdenken über diese Geschichte hatte er ganz vergessen, andere Karten zu lesen. Irgendwie war ihm jetzt auch unwohl bei dem Gedanken, wer weiß, was er als Nächstes entdecken würde?
Am Abend guckte er ‚Aktenzeichen XY‘, und wie immer gruselte es ihn dabei mehr als bei den erfundenen Krimis, die er sonst so las oder guckte. Gegen 22 Uhr fand er sich am Erlenweg wieder, die Tür von Hausnummer 10 im Auge behaltend. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte oder würde, aber eines war klar, untätig zu Hause sitzen, ging auch nicht.
Kurz nach halb elf trat eine Person aus der Haustür des heruntergekommenen Einfamilienhauses und stieg in den alten Golf, hinter dem Falk zufällig geparkt hatte. Kurzentschlossen startete Falk den Motor, nachdem der Golf vor ihm um die Ecke gebogen war, und er nahm die Verfolgung auf. Vorsichtig wie im Krimi achtete er auf Abstand, solange sie durch die Wohnsiedlung fuhren. Erst auf der Hauptverkehrsstraße wurde er mutiger und schloss ein wenig dichter auf.
Auf der Bundesstraße ließ er sich wieder weiter zurückfallen, es waren zu wenige andere Autos unterwegs. So hätte er fast übersehen, dass Jobst Winter in einen kleinen Waldweg abgebogen war. Er sah seine Rücklichter erst, als er bereits an der Einmündung vorbei war. Mit einem Fluchen wendete er und bog ebenfalls in den Waldweg ein. Hoffentlich hatte er ihn jetzt nicht verloren. Und hoffentlich blieb er mit seinem kleinen Smart nicht irgendwo zwischen den Baumwurzeln stecken, die überall aus der Erde nach ihm und seinem Auto zu greifen schienen. Dann sah er den Golf endlich auf einem kleinen Parkplatz stehen, zusammen mit einigen anderen Autos. Er parkte und stieg aus. Nicht weit entfernt hörte er Stimmen und sah Lichter zwischen den schwarzen Tannen hin- und herwandern. Vorsichtig pirschte er sich dichter heran. Vielleicht war das hier auch eine Art schwarzer Messe, wurde bei Vollmond eine Jungfrau geopfert oder ein Kaninchen geschlachtet? Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Vielleicht wäre es doch an der Zeit, mal etwas anderes zu lesen? Liebesromane vielleicht? Er schüttelte den Kopf heftiger. Dann war er nur noch wenige Meter vom Geschehen entfernt.
Auf der kleinen Lichtung wurde gebuddelt und geschippt. Jobst Winter war anscheinend nicht der Einzige, der eine Schaufel mitgebracht hatte. Als sich seine Augen ein wenig an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, sah er, dass sie dabei waren, einige Tannen auszubuddeln. Dann wurden hier nur Weihnachtsbäume geklaut? Das Gefühl, das ihn durchrieselte, konnte sowohl Erleichterung als auch Enttäuschung sein, da war er sich einen Moment nicht sicher. Und wer oder was ihn festhielt, als er sich wieder davonschleichen wollte, da war er sich auch nicht sicher. Gewiss war nur, dass er stolperte, lang hinschlug und dabei unwillkürlich einen Schrei ausstieß. Gewiss war auch, dass daraufhin mehrere Männer mit Lampen auf das Gestrüpp zukamen, hinter dem er lag. Sein Schmerzwimmern ging in ein Angstwimmern über. Die Lampen kamen näher.