Er hatte das Schild „Letzte Rentiertankstelle vor dem Niemandsland“ wohl übersehen, und jetzt hatten sie den Salat. Oder eben NICHT. Von Salat wären die Rentiere nicht begeistert gewesen, aber besser als nichts, „in der Not frisst das Rentier Salat“ war ein unter Weihnachtsmännern altbekanntes Sprichwort. Jetzt wurde es bereits dunkel und der Schlitten immer langsamer. Er hatte keine Ahnung, wo man in dieser unwirtlichen Gegend die Rentiere auftanken konnte, das Navi zeigte gar nichts mehr an. Aber erstmal landen. Bobby, das älteste Rentier schnaufte erbärmlich, und die anderen hatten auch schon lange aufgehört, mit Geweih oder Schwänzchen zu wackeln.
„Kurze Pause, Jungs“, sagte er, als er den Schlitten unfallfrei auf einem Schotterweg gelandet hatte. „Am besten, ihr schaut euch selbst mal nach etwas Fressbaren um“.
„Also Chef, so geht das aber nicht, wir brauchen Kraftfutter und nicht nur ein paar trockene Grashalme oder Tannenzweige“, beschwerte sich Bobby, „Hier ist ja nicht mal ein McDrive in der Nähe“.
„Die Geschenkesäcke waren zu schwer, mit einem zusätzlichen Sack Futter für euch hätten wir keine Starterlaubnis bekommen. Und McDonald ist eh ungesund“, sagte er.
Die Rentiere grummelten, und er meinte Wortfetzen herauszuhören, die nach „Gewerkschaft“ oder „Streik“ klangen, aber für eine echte Rebellion fehlte ihnen einfach die Kraft, und da sie alle lieber früher als später hier wieder wegkommen wollten, machten sich die Rentiere auf die Suche nach ein wenig Grünzeug, während er ebenfalls erschöpft seine Kundenliste mit den noch verbliebenen Geschenkpaketen im Schlitten abglich.
Ihre nächste Adresse musste laut Plan auf der anderen Seite des Berges vor ihnen liegen. War ja klar, dass er mal wieder die Kunden bekommen hatte, die am unbequemsten zu erreichen waren. Da würde er wohl auch mal ein ernstes Wort mit seinem Chef reden müssen. Zu viele Lieferstopps, zu schwere Geschenke und die ältesten Rentiere, das ging einfach nicht zusammen. Voller Frust trat er gegen die Kufen des Schlittens, der daraufhin bedenklich wackelte und knarzte. Jetzt musste er sich aber wirklich zusammenreißen, eine Schlittenpanne konnte er sich nicht auch noch erlauben, wer weiß, wann der ADWC ihn hier abschleppen konnte. Er seufzte.
„Wird alles gut, Chef, wir haben ein offenes Gewächshaus gefunden, wo es viel leckeres Grünzeug gibt. Wir sind jetzt wieder fit.“ Bobby stupste ihn tröstend mit der Schnauze an und rülpste laut. Seinem Maul entströmte dabei ein merkwürdiger Geruch, aber da die anderen Rentiere gerade kichernd zurückkamen, dachte er nicht weiter darüber nach, sondern machte sich ans Anschirren.
„Also los, lasst uns die letzten Termine hinter uns bringen. Nächstes Jahr besorge ich uns wenigstens einen besseren Schlitten“, sagte er und stieg ächzend wieder auf seinen Platz.
„Besorg vielleicht auch einfach ein wenig Schnee dazu, dann startet und landet es sich leichter“, sagte eines der jüngeren Rentiere, und die anderen prusteten in ihr Fell.
„Ich weiß jetzt wirklich nicht, was am Klimawandel so lustig ist“, sagte er und begann mit den Startchecks, „fertigmachen zum Abflug. Alle Lichter an, Bremsklötze von den Hufen entfernen.“
Jemand kickte ein paar Steinchen vom Schotterweg, alle Rentiere lachten. Das wurde hier ja immer alberner, aber es sollte ihm recht sein. Lieber mit gutgelaunten Rentieren fliegen als mit maulenden oder mit Streik drohenden. Während sie an Höhe gewannen, zeigte das Navi auch wieder etwas an, erleichtert lenkte er den Schlitten in die richtige Richtung. Der Berg kam schnell näher.
„Höher, Jungs!“, rief er, und mit großen Hallo stiegen sie jetzt viel zu schnell und viel zu steil. Gut, dass die Geschenke und er angeschnallt waren. „Jungs, etwas vorsichtiger bitte“. Aber die Rentiere hörten gar nicht mehr auf ihn, unter großem Gelächter und Gejuchze begannen sie jetzt sogar Kunst zu fliegen. Er fühlte sich wie in einer Achterbahn, keiner hörte auf ihn und seine Schreie. Jetzt machten sie sogar einen Looping. Für einen kurzen Moment war er in Versuchung, die Peitsche einzusetzen, aber die war ihm irgendwo und irgendwie abhandengekommen. Die Rentiere lachten immer lauter und redeten wild durcheinander. Was war nur mit ihnen passiert? Den Berg hatten sie zum Glück ohne Unfall geschafft, aber auch danach flogen sie immer weiter hinauf und hinab und wieder hinauf. Jetzt sangen die Rentiere sogar. „Über den Wolken“, wenn er das richtig verstand. Hatten sie heimlich was getrunken? Bobby drehte sich zu ihm um und rief „Wenn der Schnee nicht zu uns kommt, fliegen wir halt zum Schnee, juchhu!“ Er konnte sich nur noch festhalten und hoffen, dass er es schaffen würde, sich mit dem Fahrtwind zu übergeben, wenn es denn so weit kommen sollte.
„Kinder, mir wird schlecht“, rief jetzt Bobby. „Ja, mir ist auch ganz komisch“, „mir auch“, fielen nach und nach die anderen ein, und er nutzte die Chance, sie behutsam wieder nach unten zu lenken, wo man zum Glück jetzt auch schon die Lichter ihres nächsten Ziels sehen konnte.
Es war ein ziemlich jämmerlicher und jammernder Haufen, der schließlich auf der Zufahrt zum Haus des Kunden landete. Hoffentlich würden sie sich wenigstens benehmen, wenn der Kunde herauskam. Tat dieser zum Glück nicht, und so überbrachte er die Lieferungen drinnen mit einem heute etwas kläglichen „Hohoho“, während seine Entourage sich gemeinschaftlich lautstark im Garten übergab.
So allmählich kam ihm ein Verdacht, was sie gefressen haben konnten, aber er fragte lieber nicht nach.