Literarische Kalendertürchen 10/??

Die Glasschale fiel. Wie in Zeitlupe sah er sie näher an die Kante heran rutschen, noch näher, bis der Kipppunkt erreicht war und sie sich herabstürzte. Elegant – sogar das konnte er in der Kürze der Zeit noch feststellen – sich um sich selbst drehend wie ein Turmspringer, flirrend, reflektierend im Licht der Nachmittagssonne, um dann alles andere als elegant unten aufzuschlagen. Er meinte, das Klirren und Bersten zu hören, bevor er die Scherben sah, aber das war ja wohl physikalisch unmöglich. Egal wie: die Schale war kaputt. Um das zu erkennen, musste man weder Physiker noch sonst irgendein Fachmann sein.

Die Stille nach dem Zerbrechen war ohrenbetäubend, sogar die Wanduhr schien ihr Ticken eingestellt zu haben. Die Zeit hielt mit ihm zusammen die Luft an, bis das Rauschen in seinen Ohren einsetzte und ihn daran erinnerte, dass Atmen wohl das Geschehene nicht ungeschehen, ihm aber trotzdem guttun würde.

Sie war ein Familienerbstück aus der Familie seiner Frau gewesen. Kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten, in der Zeit, in der man sich die ersten Geheimnisse anvertraut, hatte sie ihm die Geschichte erzählt. An die Einzelheiten konnte er sich schon lange nicht mehr erinnern.

Zur Zeit ihres ersten gemeinsamen Umzugs war die Schale bereits so selbstverständlich Teil ihres Lebens geworden, dass man die Details ihrer Geschichte gar nicht mehr brauchte und sie ganz automatisch in jeder Wohnung ihren Ehrenplatz bekam. Manchmal hatte er seiner Frau zugesehen, wie sie sie fast zärtlich abstaubte. Seinen Hinweis, sie hätten doch jetzt einen Geschirrspüler und man könne doch … hatte sie mit einem Blick beantwortet, der jedes weitere Wort überflüssig gemacht hatte.

Mit Kehrblech und Handfeger machte er sich daran, die Einzelteile aufzukehren und sie sorgsam auf dem Küchentisch auszubreiten. Dann googelte er „Glas kleben“, aber die Anleitungen, die er fand, bezogen sich auf einzelne abgebrochene Teile oder wenige Einzelstücke, nicht auf dieses zillionenteilige Puzzle auf seinem Tisch. Dennoch wollte er noch nicht kapitulieren. „Aufgeben ist keine Option“, hatten sie sich immer wieder gegenseitig gesagt. Als sie so lange im Krankenhaus lag und noch viel länger brauchte, um wieder ins Leben zurückzufinden, als er diese Affäre hatte, als der Kater starb. Gründe fürs Aufgeben hatte es viele gegeben, aber zum Glück noch mehr Gründe fürs Nichtaufgeben.

Die Scherbe mit dem winzigen Aufkleber „Made in China“ entdeckte er erst, als er dann doch begann, übers Aufgeben nachzudenken und kurz bevor sie nach Hause kam.

Seltsam, wie das Hirn in manchen Situationen arbeitet, obwohl man doch eigentlich glaubt, dass es nur die vielen unterschiedlichen Empfindungen sind, die im Körper wie aufgeschreckte Hühner herumkrakeelen. Aber irgendwo saß da auch diesmal wieder jemand oder etwas in ihm und schrieb eine ordentliche Liste mit Möglichkeiten und den jeweiligen Vor- und Nachteilen, zog Schlussfolgerungen und unterbreitete ihm das Ergebnis, sodass er nur nicken und sitzenbleiben musste.

Sie hatte ihm dieses „stoische Aussitzen“, wie sie es nannte, oft vorgeworfen. Den Weg und die Kraft, den es bis dahin gebraucht hatte, konnte sie weder sehen noch verstehen. Sie musste immer irgendetwas tun, was die Dinge manchmal verschlimmerte, manchmal verbesserte. In den meisten Fällen aber war das Ergebnis am Ende das Gleiche wie sein „dann ist es eben so“. Nur war ihres halt mit sehr viel mehr sichtbarer Energie erreicht worden.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er verstand, dass ihre Tränen Lachtränen waren und sie erzählen konnte: „Sie ist mir damals in der kleinen Dachwohnung schon heruntergefallen, aber du hingst so an ihr, da habe ich eine ganz ähnliche besorgt und gehofft, dass es dir nicht auffallen würde. Ich fand das Ding ja schon immer scheußlich.“

Am Abend trug er die Mülltüte hinunter und war sich nicht sicher, ob er nicht mehr zum Container brachte als die Scherben einer billigen Imitation.