Ich bin ein Apfelbaum in den allerbesten Jahren. Vögel lieben mich, besonders die Stare sind meine Fans. Bienen umschwirren mich im Frühling, im Sommer sitzen Menschen in meinem Schatten, der Efeu rankt sich um meinen Stamm. Um es abzukürzen: ich bin ein gut sozialisierter, integrierter und wertvoller Teil der Gartengemeinschaft.
Dennoch wird es jetzt Zeit für einen Neuanfang. Böse Zungen würden vermutlich behaupten, ich sei in einer Midlifecrisis, aber das kann schon deshalb nicht stimmen, weil ich die statistische Mitte meines Lebens lange überschritten habe. Einem Gartenbauingenieur oder Baumschuldirektor würde ich in gut formulierten Worten erklären, warum ich noch nicht zu alt für neue Herausforderungen bin. Auch auf die Frage, wo ich mich in 5 Jahren sehe, hätte ich einige Antworten parat, aber im Vertrauen – Euch kann ich es ja sagen: das ist alles Bullshit. In Wahrheit geht mir nur das Geschwätz der Äpfel so unendlich auf den Stamm, dass ich manchmal glaube, es keinen Tag länger ertragen zu können. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was die so alles den lieben, langen Tag reden. „Die Blüte, aus der ich entstand, war aber viel hübscher als deine“, „du hast da einen kleinen dunklen Fleck auf der Schale, hast du etwa Würmer?“, „habt ihr die Boskop nebenan gesehen? Die sind aber ziemlich mickrig dieses Jahr“.
‚Als ob das irgendjemanden interessiert‘, würde ich ihnen gerne zurufen, und ‚ihr werdet doch ohnehin alle nur versaftet oder endet als Kompost.‘ Wenn sie wenigstens über Musik oder Literatur reden würden, notfalls auch Gedichte rezitierten, könnte ich mit dem Geplapper besser leben, aber so sehne ich jedes Jahr wieder das Ende des Sommers herbei, wenn sie von mir abfallen und endlich Ruhe eingekehrt.
Birnen würde ich gerne tragen, die sind so angenehm wenig geschwätzig, notfalls auch Pflaumen oder Mirabellen. Alles wäre besser als diese nervigen Äpfel.
Aber den Wunsch zu einem Neuanfang zu haben ist eine Sache, ihn umzusetzen eine andere. Ich rede lange mit meinem Freund, dem Wind, und im kommenden Jahr schafft er es tatsächlich, sich in der besten Apfelblütenzeit zu einem ausgewachsenen Sturm aufzuplustern, der alle Blüten vom Baum weht. Es wird der wunderbarste Sommer meines Lebens, ich genieße jeden Tag die himmlische Stille in meinen Blättern und Zweigen. Nie zuvor war ich so glücklich.
Dann allerdings kommt der Herbst, und jemand malt ein großes rotes Kreuz auf meinen Stamm. Da denke ich mir noch nichts dabei. Als sich ein paar Tage später aber jemand mit der kreischenden Säge nähert, dämmert es mir, dass mein Neuanfang wohl anders aussehen wird, als ich es mir gewünscht habe.